Sarg-Legenden
Weg fort.
Weiter oben klappte es besser. Da konnte er sich festklammern und auch in die Höhe ziehen. Mit den Knien und den Schuhen rutschte er über die feuchten Stellen hinweg, um schließlich schwer atmend aus der Spalte zu klettern.
Geschafft!
Er lag halb auf dem Bauch und brach in Gelächter aus. Sein Kichern drang über einen Teil des Friedhofs. Der Fotograf fühlte sich wie ein Sieger.
Noch vorsichtig kroch er von der weichen Stelle weg. Die Grashalme kitzelten sein Gesicht, was ihn nicht weiter störte. Erst als er den sicheren Boden erreicht hatte, zog er sich an einem schief aus dem Boden ragenden Grabstein in die Höhe und nutzte ihn sogar als Sitzfläche.
Erst einmal ausruhen und zu Atem kommen. Er strich über sein Haar. Es machte ihm jetzt nichts mehr aus, wie verschmutzt er war. Wichtig allein war das Ziel. Auf dem Weg dorthin hatte er zumindest einen Teilerfolg errungen.
Er blieb hocken. Seine Hände zitterten. Die Nachwirkungen waren nicht so leicht zu verkraften. Doyle war so aufgewühlt wie selten bei einem seiner Ausflüge. Er griff in die rechte Tasche seiner Jacke und holte eine ziemlich zerdrückte Zigarettenpackung hervor. Die Glimmstengel waren krumm geworden. Mit spitzen Fingern klaubte er eine Zigarette heraus, steckte sie zwischen die Lippen und ließ die Flamme des Feuerzeugs aufzucken.
Tief saugte er den Rauch ein. Durch die Nasenlöcher stieß er ihn wieder aus. Er schaute den Wolken nach, die sich in Höhe seines Mundes ausbreiteten, dachte zunächst an nichts, um erst einmal die Realitäten zu checken.
So gut wie möglich drehte er sich um. Sein Blick fiel über den Friedhof hinweg, der eigentlich nicht so interessant war, weil er weiter vorn etwas entdeckte, das einfach wie eine aufgebaute Kulisse wirkte, aber nicht künstlich war.
Die Mauern des alten Kilrain-Sitzes malten sich dort ab. Wie hingezeichnet stand schräg über ihnen der noch blasse Mond, als wollte er all seine Kraft auf den alten Bau verteilen, um ihm ein unheimliches Leben einzuhauchen.
Der Friedhof selbst war mehr lang als breit. Und er war von einem Zaun umgeben, der allerdings nicht mehr so stand wie er einmal errichtet worden war. An einigen Stellen lag er auf dem Boden. An anderen wiederum lief er in Schlangenlinien weiter, aber er hatte es geschafft, nicht zu reißen.
Grabsteine steckten im Erdreich, als wären sie von harten Fäusten hineingestampft worden. Es waren keine Kreuze zu sehen, nur eben die grauen Steine, von denen keiner normal gerade stand. Der Friedhof war auch nicht glatt. Seine Oberfläche glich den Buckeln einer Riesenschlange, die über den Boden kroch. An manchen Stellen sah er aufgewühlt aus, als hätte jemand versucht, aus dem Boden zu klettern, um ins Freie zu gelangen.
Er holte tief Luft.
Die Zigarette trat er aus. Es ging ihm jetzt besser. Es war auch nichts mehr passiert, und darüber konnte er sich freuen. Doyle kam sich selbst vor wie eine Friedhofsfigur, aber er dachte wieder an seinen Job. Der Platz auf dem Grabstein war gut. Er versuchte, das zu hören, was er aufgenommen hatte.
Harry spulte zurück.
Er stoppte den Recorder. Schaltete ihn wieder ein, spitzte die Ohren – und hörte es.
Ja, kein Irrtum. Keine Einbildung. Die beiden Stimmen hatte er tatsächlich aufnehmen können. Daß sie irgendwelchen Toten gehörten, das war beim besten Willen nicht zu hören. Die Stimmen klangen wie die flüsternder Menschen. Schon jetzt wußte der Fotograf, daß es ihm schwerfallen würde zu beweisen, daß es die Stimmen von Toten waren. Dazu brauchte er eigentlich einen besseren Beweis, und den sollte ihm die Kamera liefern.
Er hörte den Flüster-Dialog zweimal ab. Unterschiede in den Stimmen waren mit dem normalen Gehör nicht festzustellen. Das störte ihn auch nicht, denn er wußte schließlich, was er gehört hatte.
Aus seinem Mund drang ein leises Lachen. Er konnte sich wieder freuen. Die Augen leuchteten. Er rieb sogar die Hände gegeneinander. Weggehen wollte er nicht. Er würde warten. Auf die Geister und auch auf Bill Conolly.
Immer öfter glitt Doyles Blick zum Himmel hoch. Der dunkelte allmählich ein. Große Schatten von schwarzblauer Farbe breiteten sich in einer wahnsinnigen Länge aus. Tücher, die immer dunkler wurden und den Mond stärker hervortreten ließen. Er hatte schon einen großen Teil seiner Blässe verloren und nahm eine mehr gelbliche Farbe an, die allerdings nie an die der Sonne heranreichen würde.
Der Kreis schaute und leuchtete noch immer
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