Sarg-Legenden
seine Fotos, wo die anderen Kollegen abwinkten. So hatte er die schrecklichen Fratzen des Krieges in aller Welt gebannt und durch den Verkauf der Bilder so gut verdient, daß er auf diesen gefährlichen Job verzichten konnte und sich seinem Hobby widmete, der Fotografie des Unmöglichen.
Der Ausdruck stammte von ihm selbst, und er war stolz darauf. Er wollte das ablichten, das es normalerweise nicht gab. Was in der Welt offiziell nicht vorkam und doch ein Teil von ihr war. Eben die Dinge, die hinter dem Sichtbaren lagen oder sichtbar gemacht werden mußten, wie er mal versucht hatte, das Monster von Loch Ness abzulichten.
Das war noch ein Spaß gewesen, aber dieser Friedhof war es nicht. Er war sogar so wenig spaßig, daß Doyle sich dazu durchgerungen hatte, einen ihm bekannten Reporter anzurufen, von dem er wußte, daß er sich ebenfalls um die außergewöhnlichen Dinge kümmerte, die jenseits jeglicher Norm lagen.
Doyle wollte die Fotos schießen, und Bill Conolly sollte den Bericht dazu schreiben. Ihm hätte man nicht geglaubt. Den Namen >der lrre< hatte er ja schon weg, aber bei Bill Conolly war das etwas anderes. Schließlich galt er als seriöser Journalist.
Nur war er im Moment nicht bei ihm. Bill hielt sich im Ort auf, weil er noch etwas besorgen wollte. Er hatte Doyle zwar geraten, den Friedhof nicht zu betreten, doch an so etwas hatte sich der Fotograf noch nie gehalten. Er ging immer seinen eigenen Weg, bis eine gewisse Grenze erreicht war.
Der Friedhof war nicht besonders groß und dementsprechend übersichtlich. Doyle ärgerte sich, daß er trotzdem in dieses verdammte Loch getreten war, und er überlegte jetzt, ob er es tatsächlich übersehen hatte oder das Loch verdeckt gewesen war.
Egal, jetzt hing er fest und würde irgendwann wieder nach oben klettern.
Er stand auf. »Scheiße!« zischte Doyle, als er sah, wie sehr er sich bei der Rutschpartie beschmiert hatte. Unter dem Gras war der Boden naß gewesen, und dieses ganze Lehmzeug klebte jetzt an Hose und Jacke, so daß er aussah wie ein Kanalarbeiter.
Er schaute hoch.
Auch mit ausgestreckten Armen war es ihm nicht möglich, den Rand zu erreichen. Er mußte schon an der grasigen Seitenfläche ein Stück hochklettern. Danach würde es dann wohl besser laufen.
Dazu kam es nicht.
Plötzlich war alles vergessen, was er sich vorgenommen hatte. Er dachte auch nicht mehr an den Dreck, in dem er steckte, denn es war etwas anderes passiert.
Er hatte ein Geräusch gehört.
Eigentlich nichts Besonderes, aber dieses Geräusch oder dieser Laut hatte es in sich gehabt.
Es war eine Stimme gewesen.
Eine Flüsterstimme!
Plötzlich stand der Fotograf unbeweglich auf dem Fleck. Er machte kein Geräusch und ärgerte sich sogar über die Lautstärke seines eigenen Herzschlags.
Woher kam die Flüsterstimme? fragte er sich und dachte im gleichen Atemzug daran, daß er ihretwegen überhaupt diesen alten Friedhof besucht hatte, auf dem die Toten angeblich sprachen und als Geister ihre Gräber verließen, wie ihm der Informant mitgeteilt hatte.
Harry Doyle wartete. Es gab Situationen, in denen er eine Engelsgeduld zeigte. Er wußte genau, daß er sich nicht getäuscht hatte. Seine Ohren waren okay. Die Stimmen waren vorhanden gewesen. Eine Einbildung kam nicht in Frage.
Der Fotograf bewegte nur seine Augen. Er hielt den Atem so gut wie möglich an. Zugleich ignorierte er das Gefühl, in einem Gefängnis zu stecken. Die Wände kamen ihm eng vor, seine Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt.
Er rechnete mit allem. Auch damit, daß sich die Erde plötzlich bewegen und die bleiche Hand einer Leiche erscheinen würde. Angeblich lebten die Toten auf diesem Privatfriedhof ja. Sie waren zu Geistern geworden, die sogar untereinander Kontakt aufgenommen hatten, um eine geschlossene Front zu bilden.
Es passierte noch immer nichts. Er wünschte sich Bill Conolly an seiner Seite. Nur würde der später erscheinen, weil er noch etwas in Trimball zu erledigen hatte.
Doyle hatte sich so weit gefangen, um wieder an seine eigentlichen Aufgaben denken zu können. Er wollte filmen und die Geisterstimmen aufnehmen. Der Recorder war startbereit. Er trug ihn an seinem Körper. Nur ein Druck auf die Taste, und er würde laufen. Es war ein Gerät, daß ihn bisher nie im Stich gelassen hatte. Wahre Tondokumente hatte er damit schon aufgenommen, und Doyle wurde das Gefühl nicht los, in dieser Bodenfalte etwas Entscheidendes zu erleben, das alles andere in den Schatten
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