Sarg-Legenden
nichts. Er wartete ab, bis der Sarg weit genug aus dem Boden gedrückt worden war und sich in seinem gesamten Umriß zeigte. Er besaß nicht die Form eines mitteleuropäischen Sargs. Er war so gebaut, wie man sie vor langer Zeit angefertigt hatte und wie man sie noch in den orientalischen Ländern sah. ln der Form erinnerte er mehr an den einer alten Mumie.
Die Erde kam wieder zur Ruhe. Allerdings waren auch die Grabsteine in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie standen jetzt noch krummer und schiefer im Boden. Es glich einem kleinen Wunder, daß sie noch nicht umgekippt waren.
Bill wartete nicht mehr länger. Obwohl Doyle ihn warnte, ging Bill mit schnellen Schritten auf das neue Ziel zu.
Die Neugierde war stärker als die Furcht. Außerdem wußte ein Mann wie Bill sich schon zu wehren. Das hatte er oft genug bewiesen.
Er merkte sehr bald, daß sich die Beschaffenheit des Bodens änderte. Der Untergrund wurde weicher. Er war auch hier durch die nicht erklärbare Kraft aufgewühlt worden.
Der bleiche Sarg stand in einer Mulde. Die Erde war etwas nachgesackt, so daß der gesamte Sarg in eine Schieflage geraten war. Wo sich das Kopfund das Fußende befanden, fand Bill nicht heraus. Er wußte auch nicht, ob jemand im Sarg lag, aber er wollte es so schnell wie möglich herausfinden.
Deshalb bückte er sich, um die Totenkiste anzuheben.
»Bist du verrückt?« schrie Doyle.
»Nein, warum?«
»Laß ihn in Ruhe.«
Bill winkte ab. Er faßte unter den Sarg und hatte seine Hände dazu in das lockere Erdreich wühlen müssen. Bevor er dazu kam, den Sarg an einem Ende in die Höhe zu hieven, hörte er den Schrei.
Doyle hatte ihn ausgestoßen.
Noch immer gebückt stehend, drehte der Reporter den Kopf. Doyle lief auf ihn zu. Er sah jetzt aus wie ein irres Gespenst, als er über den Friedhof trampelte. Doyle hatte sich bewaffnet. Er hielt mit beiden Händen die Stange des Friedhofgitters fest, die er aus dem losen Verbund gelöst hatte.
»He, was willst du damit?«
»Hau ab!«
Das tat Bill nicht. Er ließ den Sarg los und lief Doyle entgegen, der nicht mehr zu stoppen war. Er hatte sich da in etwas verbissen und wollte es bis zum Ende durchziehen. Daß er Bill die Stange nicht in den Körper rammte, lag nur am schnellen Ausweichen des Reporters. Dann war Harry an ihm vorbei. Er schlitterte auf den Sarg zu und wäre beinahe über ihn gefallen, doch im letzten Augenblick behielt er noch seine Balance und konnte das tun, was er sich vorgenommen hatte.
Mit beiden Händen hob er die Stange an. Nur kurz schwebte sie über dem bleichen Sarg, dann rammte Doyle sie mit aller Kraft nach unten. Dabei gellte ein Schrei.
Das untere Ende der Stange rammte durch das Holz, als wäre es nur Pappe. Doyle spürte den Widerstand. Für ihn lag jemand darin, und er ließ die Stange los, als wäre sie heiß.
Dann war Bill da und zerrte ihn zurück. Er wollte Doyle anfahren und ihn fragen, ob er den Verstand verloren hatte, aber er schluckte die Worte wieder herunter.
Was beide zu sehen bekamen, war makaber.
Die Stange hatte nicht nur ein Loch in das Holz gebohrt, sondern auch einen breiten Riß hinterlassen. Aus ihm war das Blut gespritzt. Vom Sarg aus in die Höhe.
Das Blut hatte sich auf dem Sargdeckel verteilt. Durch die Wucht war es sogar bis zu den Seiten hingespritzt und klebte sogar an den Rändern. Die Stange steckte wie ein Mahnmal im Sargdeckel und zitterte noch leicht nach.
Harry Doyle hielt sich an Bill Conolly fest. »Ich… ich… habe es gewußt«, flüsterte er keuchend. »Es war mir klar, daß der Sarg nicht leer sein kann, verflucht.«
Bill sagte nichts.
Er starrte auf den blutbespritzten Sargdeckel und fragte sich, wer in dieser alten Totenkiste begraben lag. War es ein Mensch? Oder war es ein Monster?
Die Antwort gab ihm der Inhalt nicht. Er mußte den Deckel schon öffnen, um es herauszufinden.
»Sag was, Bill! Los, sag was! Du bist doch der Fachmann. Scheiße, das ist kein Geist da ini Sarg. Oder hast du schon mal davon gehört, daß Geister bluten?«
»Hör auf!«
»Warum stellst du dich so an?«
»Ist ja gut, Doyle, ist ja gut.«
Harry ließ Bill los und trat zurück. Plötzlich hielt er wieder seine Kamera vors Gesicht. »Öffne ihn, Bill! Los reiß den Deckel ab. Ich werde alles festhalten. Wir werden den Leuten schon zeigen, was hier läuft. Mach schon!«
Der Reporter ließ sich Zeit. Erst als er dicht neben dem Sarg stand, bückte er sich. Er tat noch nichts und horchte der Totenkiste nur entgegen,
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