Sarum
Vollmond schien. Die stille Düne war in Licht getaucht.
Petrus hatte die Düne schon durchquert und ging geradewegs hinunter durch die Wälder. Leichter Frost überzog das gefallene Laub. Petrus fühlte, daß sein Herz vor Erregung klopfte.
Die Lichtung lag in der Flußkrümmung, zwanzig Meter vom Wasser entfernt. Sie maß nicht mehr als zehn Meter im Durchmesser, und auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Als Petrus ankam, war etwas Seltsames im Gange. Zwei Männer zogen lange Balken unter dem Laub weg, und darunter kam eine kreisrunde Grube zum Vorschein. Sie hatte einen Durchmesser von etwa zweieinhalb Metern und war mit einem Holzrost bedeckt, über dem vorher die Balken gelegen hatten. Eine Holzleiter führte in die dreieinhalb Meter tiefe Grube.
Nun tauchte die gebeugte Gestalt von Tarquinus, dem Viehhirten, aus der Dunkelheit auf. An seiner Seite ging langsam ein etwa sechzehnjähriges Mädchen. Ihr blasses Gesicht, schmal wie das des Hirten, war nicht ohne Schönheit. Sie trug Sandalen und war in einen schweren Pelzumhang gehüllt. Es war seine Nichte. Die drei verneigten sich feierlich voreinander. Das Mädchen sollte zusammen mit Petrus den wichtigen Initiationsritus durchmachen.
Auf ein Zeichen von Tarquinus streiften Petrus und das Mädchen Sandalen und Kleidung ab; das Mädchen ließ mit einer anmutigen Geste den Pelzumhang fallen, unter dem es nackt war. Der schlanke, feste Körper leuchtete geisterhaft im Mondlicht. Petrus bemerkte, wie das Mädchen in der kalten Nachtluft leicht zitterte, als sie nebeneinander vor Tarquinus standen. Dann knieten sie auf sein Zeichen nieder. Schweigend wickelte Tarquinus nun ein Päckchen aus. Es enthielt die kleine Steinfigur der Göttin Sulis aus dem Schrein, die Wächterin der Stelle, wo die fünf Flüsse sich trafen.
Petrus küßte sie andächtig. »Sulis, sei mir gewogen«, flüsterte er. Das Mädchen tat es ihm nach.
Daraufhin bedeutete Tarquinus ihnen, in die Grube zu steigen, Petrus voran. Unten knieten sie sich wieder hin.
»Mögen die Götter ihren Diener annehmen und mich rein machen«, betete Petrus laut.
Inzwischen hatten Tarquinus und seine beiden Gehilfen sich zurückgezogen. Minutenlang verharrten Petrus und das Mädchen in Schweigen. Dann hörten sie schwere Tritte. Tarquinus und seine Leute führten einen großen schwarzen Stier herbei. Seine Bewegungen waren schwerfällig. Tarquinus machte das Tier mit leisen Zauberworten gefügig. Es blieb auf dem Holzrost über der Grube stehen. Petrus und das Mädchen sahen die Haare an seinem Bauch und spürten sein warmes Schnauben.
Tarquinus nahm ein langes, schmales Schwert aus seinem Gürtel. Er trat zurück und stieß es dem Stier mit einer einzigen Bewegung mitten ins Herz. Das Tier stand einen Augenblick wie gelähmt, dann rutschten seine Hufe polternd über den Rost, und es brach zusammen. Der massige Rost hielt dem Gewicht stand. Tarquinus ritzte den Rumpf des Stieres ein, und das Blut floß in schwachem Strahl in die Grube. Petrus und das Mädchen standen so, daß das Blut ihre nackten Körper traf.
Petrus murmelte: »Mögen die Götter mich rein machen.« Es war das geheiligte Ritual des taurobolium, eine wichtige Reinigungszeremonie, die im gesamten heidnischen Reich durchgeführt wurde. Über eine Stunde lang setzte Tarquinus sein Werk fort, ritzte den Tierkörper geschickt ein, bis alles Blut in die Grube getropft war. Die beiden jungen Leute stellten sich immer wieder unter den Strahl. Schließlich ließ Tarquinus sie nach oben kommen. Während das Blut auf ihren Körpern trocknete, knieten sie vor ihm, und er sprach Gebete. Seine beiden Gehilfen zerlegten den schweren Kadaver sorgfältig auf dem Rost und schafften die Stücke weg.
Nun forderte Tarquinus die jungen Leute auf, sich anzukleiden. Danach verneigten sich alle drei feierlich, und Tarquinus führte seine Nichte fort.
Dabei wandte das Mädchen sich um und starrte Petrus’ Körper mit heimlicher Begierde an. Petrus bemerkte es nicht. Er war sich nur des bedeutenden mystischen Ereignisses, das soeben stattgefunden hatte, und der wunderbaren Tatsache bewußt, daß er von diesem Tag an rein und den Göttern näher war. Er wandte sich ab und machte sich auf den Rückweg ins nördliche Tal.
Constantius Porteus hatte seit dem Abend getrunken. Nun, in den frühen Morgenstunden, war er erstaunlicherweise weder müde noch betrunken. Er machte sich Gedanken über die Ereignisse des Tages. Plötzlich sah er seinen
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