Sassinak
Monaten evakuiert und zur jüngeren Schwester ihrer Mutter auf Palun geschickt worden. Selbst dort war sie noch die schwächste gewesen und von ihren Cousinen gehänselt worden, als sie sich beim Sturz von einem Baum den Knöchel brach, weil sie nicht so gut laufen und klettern konnte wie die anderen. Mit zehn, als die zum einzigen Mal in ihrer Kindheit Diplo besuchte, hatte sie einen der Korrekturanzüge tragen müssen, die für Leichtgewichte bestimmt waren – und sich das Gewäsch ihres Großvaters anhören müssen. Sie hatte ihre Familie ruiniert, behauptete er; damit bezog er sich nicht nur auf die Kosten für die Behandlung und die Reise nach Palun, sondern auf die simple Tatsache, daß ihre Familie überhaupt ein Rückfallkind hervorgebracht hatte. Sie hatten ihre Ehre verloren; es wäre besser gewesen, wenn Seles gleich bei der Geburt gestorben wäre. Ihr Vater hatte an ihr vorbeigesehen und sich geweigert, etwas zu sagen; ihre Mutter hatte inzwischen zwei ›normale‹ Kinder, stämmige Jungs, die sie zu Boden schlugen und sich auf die Brust ihres Druckanzugs setzten, bis ihre Mutter sie fortscheuchte – sichtlich verärgert darüber, daß Seles ein solches Problem darstellte.
In der Schule auf Palun war sie von mehreren aktiven Separatisten unterrichtet worden, die ihre Schwäche als ein Beispiel betrachteten, warum die Schwerweltler den Kontakt mit Leichtgewichten und der FES vermeiden sollten. Einer von ihnen hatte ihr aber gesagt, daß es nur eine Möglichkeit gäbe, wie Rückfallkinder ihr Dasein rechtfertigen könnten – indem sie sich den Interessen der Schwerweltler als loyal erwiesen und als Spion in der dominierenden Kultur der Leichtgewichte dienten.
Mit dieser Hoffnung hatte sie aus medizinischen Gründen eine Verlegung auf eine Welt mit Normalschwerkraft beantragt, was rasch genehmigt wurde. Sie war zu einem Mündel des Staates erklärt und in eine öffentliche Grundschule auf Caseys Welt gesteckt worden.
Sassinak fiel auf, daß Seles ungefähr im selben Alter in diese fremde Grundschule gekommen sein mußte, wie sie selbst in die Vorschule der Flotte gekommen war – plus/minus ein Jahr. Aber Seles hatte keinen Abe gehabt, keinen Mentor, der sie anleitete. Größer als der Durchschnitt, stärker als normal (doch schwach nach Maßstäben der Schwerweltler), hatte sie bereits geglaubt, daß sie eine Ausgestoßene sei. Hatte jemand versucht, sich mit ihr anzufreunden? Sassinak konnte es nicht sagen; sicher hätte Seles es nicht bemerkt. Selbst heute war ihr Gesicht mit seinen Anflügen an die typischen Züge eines Schwerweltlers nicht häßlich – es war ihr Gesichtsausdruck, diese starre, teilnahmslose, leicht verdrießliche Miene, die sie mehr wie eine Schwerweltlerin und dümmer aussehen ließ, als sie war. Sie hatte ein paar Mal in Schwierigkeiten gesteckt, weil sie sich geprügelt hatte, gab sie zu, aber es war nicht ihre Schuld gewesen. Die Leute nahmen Anstoß an ihr; sie haßten Schwerweltler, und sie hatten ihr nicht vertraut. Sassinak hörte das selbstmitleidige Wimmern in ihrer Stimme und schüttelte in Gedanken den Kopf, erwiderte aber nichts darauf. Niemand mochte Jammerlappen, niemand vertraute mürrischen Menschen.
So war Seles, als sie die Schule verließ, immer noch der Überzeugung gewesen, daß es in der Welt nicht fair zuging, und sie brannte immer noch darauf, sich gegenüber ihren Schwerweltverwandten zu rechtfertigen. In dieser Stimmung hatte sie sich bei der Flotte beworben, war aufgenommen worden – und während ihres ersten Urlaubs nach der Grundausbildung nach Diplo zurückgekehrt. Ihre Familie hatte sie verächtlich gemacht und sich zu glauben geweigert, daß sie wirklich als Agentin für die Schwerweltler arbeiten wollte. Wenn sie irgendwie dazu befähigt wäre, sagten sie ihr, wäre sie längst von einem der ordentlichen Geheimdienste rekrutiert worden. Was sollte sie allein schon ausrichten? Nutzloser Schwächling, befand ihr Großvater verächtlich, und diesmal nickte sogar ihre Mutter, während ihre jüngeren Brüder grinsten. Beweise dich erstmal, sagte ihr Großvater, dann kannst du um Gefallen bitten.
Auf dem Rückweg zum Raumhafen hatte sie sich ein Kilo Gift gekauft – weil seine Benutzung auf Diplo keinerlei Einschränkungen unterlagen, hatte sie angenommen, daß Schwerweltler dagegen immun seien. Sie wollte die Leichtgewichtmannschaft des erstbesten Schiffes umbringen, auf dem sie Dienst tat, das ganze Ding für die Schwerweltler gewinnen, und das
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