Satans Erbe (German Edition)
»Schwester Ulrike, bitte sagen Sie nicht Nein.«
»Zu was?«
»Ich möchte hier raus. Bitte …«
»Das habe ich nicht zu entscheiden, Bernhard.«
»Warten Sie. Ich meine nicht für ganz. Ich will heute Nacht raus. Oder morgen.« Er fasste sich hinter den Rücken und zog einen Umschlag hervor. »Bitte nehmen Sie das.« Bernhard sah sie so eindringlich an, während er ihr mit beiden Händen dieses Kuvert entgegenstreckte, dass Ulrike schlucken musste.
»Was ist in dem Umschlag?«
»Bitte, nehmen Sie ihn.«
Zögernd griff sie zu. Das Kuvert war weich, schien aber nicht gepolstert. Ihr schwante etwas. Um sich zu vergewissern, schob sie eine Ecke beiseite und warf einen Blick hinein. Ein dickes Bündel Geldscheine lachte ihr entgegen und ihr Herz tat einen Sprung. Ihr Gewissen meldete sich. Das konnte sie nicht machen. Ihr Hals kratzte, als sie antwortete: »Was erwarten Sie dafür, Bernhard?«
Sein Gesicht hellte sich auf. »Lassen Sie mich von Zeit zu Zeit hier raus. Wenn alle am Schlafen sind. Ich werde morgens zeitig zurück sein und ich verspreche, dass mich niemand sehen wird.«
Ulrike wägte den Gedanken ab, ob sie dieses Risiko eingehen sollte – und nach kurzem Überlegen stellte sie fest, dass der Umschlag in ihrer Hand schwerer wog.
*
Seine teuer erkaufte Freiheit war Bernhard wichtiger als alles Geld der Welt. Geschickt hatte er das Klinikgelände verlassen und befand sich auf dem Weg hinunter nach Interlaken. Höchstens anderthalb Kilometer, soviel hatte er bei seinen zahlreichen Blicken aus den Fenstern hinab ins Tal geschätzt. Somit konnten es nicht viel mehr als drei Kilometer bis zur Villa sein.
Heute Nacht würde er noch nicht so weit gehen. Er war längere Fußmärsche nicht mehr gewohnt. Aber bis fast ins Dorf, ja, so weit wollte er sich vorwagen.
Als er durch eine beschauliche Reihenhaussiedlung lief und sich zwischen den Schatten der Straßenlaternen hindurchwand, fuhr ihm ein betörender Geruch in die Nase. Er blieb stehen und schnupperte, folgte seinen Sinnen bis an einen Gartenzaun, dorthin, wo ihn der Duft am intensivsten empfing. Langsam streckte er die Hand aus. Seine Finger glitten über eine samtig weiche Blüte und ein Wassertropfen kullerte auf seinen Daumen. Bernhard zog die Hand zurück und hielt sie sich dicht unter die Nase.
Rosen.
*
Ulrike saß währenddessen zusammengekauert im Schwesternzimmer. Hoffentlich war das kein Fehler, betete sie pausenlos vor sich hin.
Aber klar, er hat mich k. o. geschlagen. Oder nein … ich hatte mich schlafen gelegt, da hat er die Gelegenheit genutzt … ist ja immerhin nicht verboten. Nein, noch besser. Er ist geradewegs auf die Tür zugestürmt, und ehe ich reagieren konnte, war er draußen. Ich konnte schließlich nicht die Patienten im Stich lassen und ihn verfolgen … nein, alles Quatsch. Er muss jemanden beauftragt haben, ihm einen Zweitschlüssel zu besorgen. Christa … natürlich. Sie hatte keinen Schlüssel besorgt, sie war der Schlüssel. Von ihr hatte Bernhard den Umschlag mit dem Geld bekommen. Das war es! Sie würde einen Schlüssel nachmachen lassen und ihn in seinem Zimmer verstecken …
Erst als sie draußen das vereinbarte Zeichen hörte und sie Bernhard in sein Zimmer zurückgeleitet hatte, fiel die Anspannung von ihr ab.
Sollte ihr ab jetzt das Glück etwa hold sein?
82.
Psychiatrische Privatklinik
»Sanatorium Hardegg«
Interlaken, Schweiz
23. Dezember 2008
S ibylle sah mit gemischten Gefühlen zu, wie der Bär seine Unterlagen zusammenschob. Sein letzter Tag im Sanatorium war angebrochen. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Matthias war stinksauer, weil sie sich um nichts gekümmert hatte und das, obwohl sie ihre und seine Eltern zu Besuch erwarteten. Vielleicht auch gerade deswegen? , flötete ihr eine Stimme ins Ohr. Sie riss sich aus ihren Gedanken und sah den Bären an. »Wir haben alles richtig gemacht, nicht wahr?« Brauchte sie wirklich seine Zustimmung? Erleichterung durchfuhr sie, als der Bär nickte.
»Ich hätte nichts anders gemacht, wenn sie meine Patientin wäre.«
Sibylle seufzte, aber der Bär sprach weiter.
»Worüber ich die ganze Zeit nachdenke, ist, dass Elisas Identität nicht geklärt ist. Das könnte ein Problem für sie werden. Jeder Mensch braucht das Wissen um seine Herkunft. Neben allen Problemen, denen Elisa ausgesetzt war und ist, könnte sich hier ein neues Belastungssyndrom entwickeln.«
Sibylle nickte. »Wollen wir noch einmal alles
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