Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Satori - Winslow, D: Satori - Satori

Titel: Satori - Winslow, D: Satori - Satori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
Vom Netzwerk:
schwenkten umher wie in einem Gefängnishof.
    Ich habe keine andere Wahl, dachte Nikolai, ich muss über die Mauer.
    Es war schade um das maßgeschneiderte Jackett, aber Nikolai zog es aus, wartete, bis der Scheinwerfer seinen Bogen vollendet hatte, und warf es auf den Stacheldraht. Dann sprang er, hielt sich am Jackett fest, das von den Stacheln fixiert wurde, und zog sich auf die Mauer. Dort blieb er liegen, balancierte vorsichtig, bis der Scheinwerfer seinen nächsten Bogen vollendet hatte, und ließ sich dann fallen.
    Unter ihm bewegte sich etwas.
    Nikolai unterdrückte einen Aufschrei, als eine Boa Constrictor unter ihm hervorglitt und dabei ihre kräftigen Muskeln an seinen Rippen entlangschob. Die Schlange war gut vier Meter lang und glänzte im Mondlicht. Sie wandte den Kopf, betrachtete Nikolai einen Augenblick und schnalzte mit der Zunge, als wollte sie prüfen, ob er sich zum Fressen eignete.
    »Nein«, murmelte Nikolai.
    Die Schlange zog weiter, sehr viel langsamer, als Nikolai lieb war. Ein sensei hätte eine Schlange als Omen betrachtet, ein chinesischer sifu dagegen hätte ihm geraten, es der Schlange gleichzutun – sie ist eine der fünf Tierarten, die im Shaolin Kung-Fu nachgeahmt werden.
    Nikolai schlängelte sich also über den kurzgemähten, penibel gepflegten Rasen. Der Abendtau durchnässte sein Hemd. Er hielt sich dicht am Boden, fror und presste sein Gesicht ins Gras, immer wenn der Scheinwerfer zu ihm herüberschwenkte.
    Dann sah er den Tiger.
    Er war in seinem Käfig, vielleicht fünfzehn Meter entfernt zu seiner Linken.
    Das wilde Tier stieß ein tiefes, bedrohliches Knurren aus, und Nikolai spürte, wie Urängste ihn durchzuckten – atavistische Überreste, dachte er, aus der Zeit, als unsere Spezies noch auf Bäumen lebte. Die Augen des Tigers waren wunderschön anzuschauen, bezaubernd im wahrsten Sinne des Wortes, und Nikolai spürte, wie die Kreatur ihn in ihren Bannkreis zog.
    Funktioniert das so?, fragte er sich. Kurz vor dem Tod erstarrt man ehrfürchtig auf dem Opferaltar? Erkennt man die Herrlichkeit der Welt in dem Moment, in dem man von ihr scheidet?
    Sein Blick begegnete dem des Tigers.
    Zwei Raubtiere, dachte er, die nachts aufeinandertreffen.
    Dann erinnerte er sich an das alte chinesische Sprichwort: Wenn Tiger kämpfen, wird einer getötet und der andere tödlich verletzt.
    Das sollte man nicht vergessen.
    Nikolai nickte dem gefangenen Tiger zu und kroch langsam weiter.
    Etwa dreißig Meter vor dem Haus machte er halt und beobachtete die Wachen, die dort patrouillierten. Sie waren zu viert und schritten das Haus auf unterschiedlichen, einander überschneidenden Routen ab. Sie waren mit amerikanischen Gewehren bewaffnet, traten leise auf und sprachen nicht, wenn sie aneinander vorbeigingen. Nur ein kurzes Nicken zeigte an, dass alles in Ordnung war.
    Das Gute an Wachen, dachte Nikolai, ist, dass sie einem den Weg weisen. Jeder von ihnen richtete sich fast unmerklich auf und hielt sein Gewehr bereit, wenn er an einem bestimmten Fenster im ersten Stock der Villa vorbeikam. Licht schien durch den Vorhang. Das Fenster war geöffnet, wenn auch durch ein Eisengitter geschützt.
    Bay Vien war zu Hause in seinem Schlafzimmer.
    Mit unendlicher Geduld – und Dankbarkeit gegenüber seinen japanischen Lehrern, die ihm diese Tugend vermittelt hatten – kroch Nikolai in einem großen Bogen um die gesamte Villa herum und suchte nach einer Schwachstelle.
    Er fand sie am hinteren Teil des Hauses, an der Küche.
    Ein Koch in weißer Kochjacke saß auf einem Hocker vor der geöffneten Tür. Mit gesenktem Kopf, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, rauchte er eine Zigarette.
    Nikolai kroch näher heran und konnte den charakteristischen Geruch von nuoc mom , der typischen vietnamesi schen Fischsuppe wahrnehmen, die zu den Grundnahrungsmitteln eines jeden Bauern gehörte. Er setzte all seine Konzentration auf seinen Hörsinn und lauschte. Der Koch unterhielt sich zwanglos mit jemandem im Inneren des Hauses. Zum Glück sprach er Chinesisch, und so erfuhr Nikolai, dass der Junge drinnen ein Untergebener war, ein Diener namens Cho, und die Suppe fast fertig, weshalb Cho lieber nicht verschwinden und ein Nickerchen halten sollte, sofern er nicht wollte, dass man ihm die Eier abriss.
    Nikolai wartete und stoppte die Zeit, die die Wachen für ihre Runden benötigten, bis er herausfand, dass sie in einem Rhythmus von zweiunddreißig Sekunden an der Küchentür vorbeikamen.
    Nikolai

Weitere Kostenlose Bücher