Satori - Winslow, D: Satori - Satori
relativ kosmopoliti schen Schanghai gefunden hatten. Es war keine schöne Zukunftsaussicht, aber die Einzige, die ihr offenstand.
»Wo ist dein Geld?«, fragte er. »Ich brauche welches, um Leute zu schmieren. Den Rest nimmst du bar mit.«
»Ich werde es holen.«
Er schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Man wird dich verhaften, und dann … ich könnte dich nicht mehr schützen. Du würdest ihnen alles erzählen, Alexandra. Glaub mir, du würdest ihnen alles erzählen, was sie wissen wollen, und mehr als das.«
Sie sagte ihm, wo das Geld war. »Ist das meiste noch dort?«, fragte er.
Sie nickte.
Dann schmiedeten sie einen Plan.
In jener Nacht würden Agenten der Tscheka ihr Haus stürmen, ihre Möbel und Besitztümer »konfiszieren« und mit Hilfe eines bereits informierten Bahnhofsbeamten in einen extra dafür vorgesehenen Waggon der Tscheka laden.
»Niemand wird wagen, ihn zu überprüfen«, versicherte Woroschenin.
Alexandra selbst würde kurz vor Morgengrauen ›verhaftet‹, zum Bahnhof gebracht und von dort aus angeblich in irgendein sibirisches Dreckloch abgeschoben werden. Stattdessen aber würde sie mit den Papieren, die ihre neue Identität belegten, in relativer Annehmlichkeit nach Wladiwostok reisen.
»Und mein Geld?«, fragte sie.
»Ich werde es selbst zum Zug bringen«, erklärte er.
»Und was ist mit dir?«, fragte sie. »Bist du in Gefahr?«
»Ich komme mit dem nächsten Zug nach«, sagte er. »Mit meinen neuen Papieren. In Wladiwostok können wir dann überlegen, wie wir mit unserer Vereinbarung weiter verfahren. Aber wir müssen schnell handeln«, drängte er. »Es gibt eine Menge zu tun und wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Tscheka hat Lunte gerochen.«
Alexandra Iwanowna gab ihm die Adresse ihrer Buchhalter im Rižskji Prospekt, und dann trugen sie ihre persönlichen Dinge zusammen – Schmuck, Porzellan, Kristall, sorgfältig aufbewahrte Familienerbstücke, all die Gegenstände, die sie fünf lange Jahre gegen den Mob verteidigt hatte.
Woroschenin fuhr in den Rižskij Prospekt.
Seine Untergebenen bei der Tscheka, die er entsprechend geschmiert und eingeschüchtert hatte, verhafteten Alexandra Iwanowna am nächsten Morgen und brachten sie zum Zug.
Woroschenin tauchte nie wieder auf.
Sie wusste, dass er sie reingelegt hatte und sie froh sein musste, wenigstens ihre persönlichen Habseligkeiten mit ins Exil nehmen zu dürfen.
Das war die Geschichte, die Gräfin Alexandra Iwanowna ihrem Sohn erzählte.
Die Geschichte, wie Juri Woroschenin sie um ihre Ehre und Nikolai um sein Erbe gebracht hatte.
42
W oroschenin legte die Unterlagen zurück auf den Tisch.
Er starrte aus dem Fenster und zwang sich, die vorliegenden Fakten im Blick zu behalten und nicht ins Reich der Erinnerungen abzuschweifen.
Die Berichte, viele davon Kopien von älteren und handgeschriebenen Dokumenten, gingen einhellig davon aus, die Gräfin Alexandra Iwanowna sei 1922 aus Russland geflohen, doch das wusste Woroschenin ja bereits. Offensichtlich hatte sie sich für die beliebte Route über Fernost entschieden, durch die Mandschurei nach China, wo sie sich angeblich in Schanghai niedergelassen hatte. Obwohl sie ihren gesamten Haushalt mit sich führte, war sie ansonsten mittellos – aber auch das wusste Woroschenin längst – und überlebte, indem sie sich auf ihren Verstand, ihre Schönheit und ihre Verführungskünste besann, um eine Reihe wohlhabender Auswanderer und Abenteurer zu umgarnen.
Woroschenin zweifelte nicht an ihren Verführungskünsten, er hatte ja selbst Erfahrungen damit gesammelt. Die Erinnerung an ihren sinnlichen Körper, ihre seidige Haut und …
Den Berichten zufolge hatte Iwanowna einen deutschen Adligen verführt, sich von ihm schwängern lassen, die anstandshalber angebotene Heirat mit dem jungen Keitel zum Hel aber ausgeschlagen. Ungefähr 1925 oder 26 hatte sie einen Sohn zur Welt gebracht, den sie – unverbesserliche Aristokratin, die sie war – auf den Namen Nikolai taufte.
Nikolai Hel, fiel Woroschenin jetzt auf, war etwa im selben Alter wie Michel Guibert. Das mochte Zufall sein, aber alle Woroschenin bekannten Männer, die an Zufälle geglaubt hatten, waren tot.
So wie zum Hel, der in Stalingrad gefallen war.
Die Iwanowna verschwand aus den Geheimdienstberichten bis 1937, als die Japaner Schanghai besetzten und der japanische General Kishikawa ihr Haus requirierte. Die aufgeführten Informanten lieferten lüsterne Tratschgeschichten über das Verhältnis
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