Satori - Winslow, D: Satori - Satori
der beiden, das angeblich über das einer Gastgeberin zu ihrem Gast hinausgegangen war, und Woroschenin verspürte unerwartet den Stachel der Eifersucht, als er sich an die Nachmittage erinnerte, an denen er …
Die Gräfin hätte sich den Vorwurf der Kollaboration eingehandelt, hätte sie den Krieg überlebt, doch sie starb eines natürlichen Todes.
Aber was ist aus dem Sohn geworden?, fragte sich Woroschenin.
Zum Thema Nikolai Hel hatten die Unterlagen nichts mehr zu bieten. Der Junge tauchte in den Akten ganz einfach nicht mehr auf – was nicht ungewöhnlich war, beruhigte Woroschenin sich: Hunderttausende waren im Chaos des Krieges verschwunden.
Jetzt, da Woroschenin in seinem Büro in der russischen Botschaft saß, wünschte er, er hätte doch Anweisung gegeben, die Iwanowna hinrichten zu lassen – oder es am besten selbst getan –, bevor sich die Schlampe auch noch fortpflanzen konnte.
Aber ist das möglich?
Ist es möglich, dass es sich bei diesem Guibert in Wirklichkeit um Nikolai Hel handelt, der jetzt Rache nehmen will?
Gerade jetzt, wo ich kurz davorstehe, meinen Abgang zu planen?
43
Sie klapperten alle wichtigen Sehenswürdigkeiten ab.
Den Platz des Himmlischen Friedens, den Himmelstempel, die Verbotene Stadt, den Trommel- und den Glockenturm, den Beihai-Park.
»Den kennen Sie ja schon«, merkte Chen an.
Er war erleichtert, als Nikolai vorschlug, zum Xidan-Markt zu fahren und die Waren der Straßenverkäufer in Augenschein zu nehmen. Im Dämmerlicht des späten Nachmittags war es jetzt bitterkalt, und sie machten auf ihrem Weg von Xidan durch die hutongs an offenen Kohlepfannen und Kübelfeuern halt, um sich Hände und Füße zu wärmen. Während einer solchen Pause, in der er seine beiden Begleiter zu Krapfen und heißem grünem Tee, verbrannten Würstchen, gerösteten Maronen und Schüsseln mit süßem Haferbrei einlud, erfuhr Nikolai endlich, dass der Fahrer Liang Qishao hieß und hier in Peking geboren und aufgewachsen war.
Nikolai genoss den Ausflug. Es war kälter und nicht so aufregend wie die Streifzüge, die er als Jugendlicher durch die zwielichtigen Viertel von Schanghai unternommen hatte, aber dennoch war es ein ähnliches Erlebnis, und das einfache Essen war mindestens so köstlich wie alles, was in den vornehmen Restaurants serviert wurde.
Satt und zufrieden sagte er zu Chen: »Jetzt würde ich gerne eine Kirche besuchen.«
»Eine Kirche?«
»Eine katholische Kirche«, präzisierte Nikolai. »Schließlich bin ich Franzose. Gibt es denn noch welche in Peking?«
Liang nickte. »Dongjiaomin, St. Michaelis. Im Gesandtschaftsviertel.«
»Könnten Sie mich dort hinbringen?«, fragte Nikolai.
Liang sah seinen Chef an.
Chen zögerte, nickte dann aber.
»Na gut.«
Die Kirche war wunderschön.
Nikolai war kein Anhänger religiöser Architektur, aber St. Michaelis mit den beiden gothischen Kirchtürmen, die sich über das ansonsten eher flache Häusermeer erhoben, besaß zweifellos Charme. Eine Statue des Erzengels Michael thronte über den beiden Torbögen.
Chen hatte ihn auf der Ostseite des Gebäudes abgesetzt, abseits der Hauptstraße, und weder er noch Liang begleiteten ihn durch das eiserne Tor in den Kirchhof. Nikolai genoss den seltenen Moment der Ungestörtheit, bevor er eintrat.
Der Innenraum war relativ dunkel, erleuchtet nur vom Licht der Kerzen und dem schwachen Glimmen einiger weniger Wandleuchter. Doch das schwindende Licht der Nachmittagssonne verlieh den Buntglasfenstern einen leichten Glanz und die Atmosphäre war still und friedlich.
Wie Solange es ihm beigebracht hatte, tauchte Nikolai die Fingerspitzen in das kleine Becken mit heiligem Wasser und bekreuzigte sich. Er trat zum Altar, kniete vor den Votivkerzen nieder und sprach ein Gebet. Dann ging er zu den Bankreihen zurück und wartete, bis jemand aus dem Beichtstuhl kam.
Eine Chinesin mit einem schwarzen Tuch über dem Kopf trat heraus, sah Nikolai an und eilte verängstigt nach draußen. Er wartete einen Moment, erinnerte sich an die Worte, die Solange ihn gelehrt hatte, ging hinein, kniete sich in den Beichtstuhl und sagte auf Französisch: »Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt.«
Er konnte die Gesichtszüge des Priesters hinter dem Sichtschutz in der dunklen Kabine kaum erkennen, aber sie wirkten asiatisch.
»Wie ist dein Name, mein Sohn?«
»Michel.«
»Wie viel Zeit ist seit deiner letzten Beichte vergangen?«
Nikolai erinnerte sich an die vorgegebene Zahl. »Achtundvierzig
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