Satori - Winslow, D: Satori - Satori
wollte sich diesen Luxus mental aber nicht zugestehen.
Körperlich erschöpft, dafür geistig erfrischt setzte sich Nikolai nach Beendigung seiner Übungen in Meditationshaltung auf den Boden und rief sich den Grundriss des Zheng Yici Opernhauses vor Augen.
Er arbeitete sich von Woroschenins Loge den Gang entlang und eine Treppe hinunter. Links kam er in den Hauptbereich des Theaters, dann in die Lobby und zur Haupteingangstür. Wandte er sich am Fuß der Treppe aber nach rechts, gelangte er in einen weiteren kurzen Gang und an eine Tür. Von dort konnte er rechts direkt hinter die Bühne oder links hinaus in ein Gässchen hinter dem Theater gehen.
So sah es also aus, und in Gedanken ging er seinen Fluchtweg ab. Raus aus der Loge, links den Gang entlang, die Treppe hinunter, rechts in den Flur und raus. Er »ging« die Strecke ungefähr zwanzigmal, bevor er sich die nächste mentale Stufe vornahm.
Hindernisse.
Zunächst waren da Woroschenins Leibwächter: Wenn er den Mord korrekt durchführte, würden sie eine entscheidende Minute lang gar nicht bemerken, dass etwas nicht stimmte. Aber er musste trotzdem die Möglichkeit in Betracht ziehen, sich nach draußen durchkämpfen zu müssen. Man konnte nicht wissen, wo die Wächter platziert sein würden, das musste er also vor Ort improvisieren. Aber darum ging es bei der kata : den Körper darauf abzurichten, dass er auf Bedrohungen sofort reagierte, ohne erst darüber nachdenken zu müssen, was oft tödlich war.
Er verbannte die Wächter also aus seinen Gedanken.
Der Gang vor den Logen durfte eigentlich keine Probleme bereiten. Vielleicht würde chinesische Polizei da sein, aber wenn es beim Mord an Woroschenin keinen Aufschrei gab, würde er einfach an ihnen vorbei »zur Toilette« gehen.
Mental verlangsamte er seinen Schritt, setzte gelassen einen Fuß vor den anderen, nicht wie ein Mann, der gerade einen anderen getötet hatte, sondern wie einer, der seine Blase erleichtern möchte.
Er ging die Treppe hinunter, dann rechts. Am Ende des Gangs führte eine Tür hinter die Bühne, und dort würde mit ziemlicher Sicherheit ein Bediensteter stehen, dessen Aufgabe es war, Bewunderer und Fans fernzuhalten.
Den Mann zu töten wäre ein Kinderspiel.
Aber einen unschuldigen Türsteher umzubringen, wäre beschämend und kam nicht infrage, weshalb Nikolai mental einen nicht tödlichen Hieb gegen den Hals, genauer gegen die Halsschlagader, probte, der ihn außer Gefecht setzen, aber nicht töten würde. Er vollführte die Angriffsbewegung, ließ den Mann auf den Boden sinken und öffnete die Tür.
Die nächste Tür befand sich direkt zu seiner Linken, und er trat hinaus in die kalte Nachtluft.
Einfach, dachte er und musste über seine Selbsttäuschung schmunzeln.
Einfach, vorausgesetzt, du kommst nah genug an Woroschenin heran, um ihn zu töten.
Vorausgesetzt, du führst den perfekten Schlag, so dass er leise stirbt und dabei auf seinem Platz sitzen bleibt.
Vorausgesetzt, die Leibwächter bekommen nichts mit.
Vorausgesetzt, du musst nicht noch drei weitere Männer töten und dich dann an der chinesischen Polizei vorbeikämpfen.
Wenn alles gut läuft, ist es einfach, aber dafür müssen eine Menge Voraussetzungen erfüllt sein. Kein Wunder, dass Haverford ihm Überlebenschancen von eins zu einhundert eingeräumt hatte.
Und wenn nicht?, fragte er sich.
Wenn nicht, dann ist das dein Karma, dein Schicksal, und du wirst getötet.
Bist du darauf vorbereitet?
Ja.
Kishikawas Worte fielen ihm wieder ein. Wenn man bereit ist zu sterben, dann ist diese Frage geklärt. Anschließend gilt es nur noch, das eigene Handeln zu überprüfen. Denke nur an den Erfolg, denn Misserfolg stellt sich von selbst ein.
Nikolai saß noch eine weitere Stunde da und rief sich die gesamte Operation vor Augen, Schritt für Schritt, den perfekten Ablauf. Er erhob sich, entlockte dem Hahn heißes Wasser und badete. Dann zog er sich an und ging hinunter in die Lobby, wo Chen auf ihn wartete, um ihn erneut mit seiner Gastfreundschaft zu belästigen.
46
Die Akrobaten waren großartig.
Sie vollführten unglaubliche Kunststücke, für die Kraft, Gleichgewichtssinn und Mut nötig waren. Nikolai fühlte sich in die glückliche Zeit seiner Kindheit in Schanghai zurückversetzt, wenn er den Straßenzirkus besucht und die Darsteller bestaunt hatte.
Die Vorführung an diesem Abend fand in einem riesigen Zelt statt, das, nicht ganz ungefährlich, mit Gas beheizt wurde. Der Boden bestand aus
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