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Satori - Winslow, D: Satori - Satori

Titel: Satori - Winslow, D: Satori - Satori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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erschießen?«
    »Das ist nicht amüsant.«
    »Ebenso wenig wie Sie.«
    Sie griff nach einem kleinen, quadratischen, bunten Päckchen auf ihrem Nachttisch, wickelte es aus und brachte ein Stück Schokolade zum Vorschein. Da fiel ihr der hungrige Blick des Bolschewiken auf, und obwohl sie dieses kleine Stück seit Wochen aufbewahrt hatte, sagte sie: »Wie unhöflich von mir. Möchten Sie etwas davon?« Sie brach die Schokolade in der Mitte durch und hielt ihm eine Hälfte hin.
    Er nahm sie an. »Schokolade habe ich schon seit …«
    »Ich nehme an ›seit der Revolution‹ ist die Formulierung, die Sie suchen«, sagte Alexandra freundlich. »Ja, St. Petersburg war damals eine Stadt der großen und kleinen Freuden.«
    »Jetzt heißt sie Petrograd.«
    »Wie Sie wünschen«, sagte sie.
    Sie sah ihm zu, wie er sich die Schokolade schmecken ließ, dann sagte er: »Sie werden ausziehen müssen.«
    Was hätte sie tun sollen?, fragte sie Nikolai, als sie ihm die Geschichte erzählte. Ihre Familie war im Krieg gestorben oder von den Roten hingerichtet worden. Die Vorstellung, auf der Straße zu sitzen, ohne die Dinge, die ihr lieb waren, ohne ihre Sachen, machte ihr mehr Angst als der Tod. In Petrograd gab es wenig Wohnraum und kaum einen Ort, an dem eine bekannte »Weiße« willkommen gewesen wäre. Sie hatte Menschen ihres Standes auf der Straße gesehen, wie sie menschliche Fäkalien beseitigten, Äpfel verkauften oder ihre Körper.
    »Und wo soll ich hin?«, fragte sie.
    »Das ist nicht mein Problem.«
    Sie war allein und hilflos, ihr war nur eine einzige Macht geblieben, die Einzige, über die Frauen damals verfügten. Sie musterte ihn einige Augenblicke und sagte: »Könnte es aber sein. Ihr Problem, meine ich.«
    »Wie kommen Sie denn darauf?«
    »Die Art, wie Sie mich ansehen«, erwiderte sie. »Aber täusche ich mich? Vielleicht liege ich falsch.«
    »Nein, Sie liegen nicht falsch.«
    Sie befreite ihre Hand aus seinem Griff und ging auf das riesige Bett zu.
    Alexandra Iwanowna durfte ihre Räume behalten.
    Woroschenin besuchte sie dort an vielen Nachmittagen und in den meisten Nächten, seine Stellung bei der Tscheka schützte ihn, zumindest vorübergehend, vor der »sozialen Verunreinigung«, die eine Affäre mit einer Angehörigen der »besitzenden Klasse« mit sich brachte.
    Eines Nachts sagte er ihr, dass er sie liebte. Sie lachte. »Ein guter Bolschewik wie Sie glaubt doch gewiss nicht an die romantische Liebe.«
    »Vielleicht doch.«
    »Vielleicht sollten Sie das lieber nicht tun«, sagte sie. »In dieser Welt gibt es keine Romantik mehr, mein Lieber. Das sollten Sie wissen, Sie haben dazu beigetragen, ihr den Garaus zu machen. Wir haben eine Vereinbarung, Woroschenin, mehr nicht.«
    Eine Vereinbarung, die hatten sie allerdings, dachte er. Sie gab sich ihm hin, er schützte sie vor ihm selbst. Die Symmetrie war verblüffend.
    Als er sie am darauffolgenden Nachmittag besuchte, war er vor Sorge ganz weiß im Gesicht. »Alexandra, du musst verschwinden. Sofort.«
    Sie wirkte bestürzt. »Ich dachte …«
    »Die Tscheka weiß vom Rižskij Prospekt.«
    Seit der Revolution hatte sie vorsichtig, heimlich, nach und nach das Vermögen der Familie Iwanow – Millionen von Rubel – in die Obhut eines alten Wirtschaftsprüfungsunternehmens auf dem Rižskij Prospekt übergeben. Gegen eine Gebühr schmuggelten die Männer es nach und nach außer Landes und auf Bankkonten in Frankreich und der Schweiz. Es war ein äußerst gewagtes Unterfangen – man hatte Weiße schon für eine Uhr, einen Ring oder einige Laib Brot zu Tode gefoltert, und sie versteckte Millionen. Hinzu kam die Disziplin, die es erforderte, Armut vorzutäuschen, zu hungern und sich nur hin und wieder ein winzig kleines Stück Schokolade zuzugestehen.
    »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dich holen«, sagte er. »Und mich auch. Du musst verschwinden. Fort von hier. Das Land verlassen.«
    »Aber meine Sachen, meine Möbel …«
    »Morgen früh um sieben verlässt ein Zug den Finnischen Bahnhof Richtung Osten«, sagte Woroschenin. »Ich habe dir einen Platz organisiert, und auch für den Transport deiner Sachen ist gesorgt. Das hat mich einiges gekostet, aber offensichtlich hast du ja Geld, nicht wahr? Ich habe Reisedokumente beschafft, die dich sicher nach Wladiwostok bringen, danach …«
    Tausende von Weißen hatten diesen Weg genommen – nach Wladiwostok und von dort über die durchlässige Grenze nach China, wo die meisten Zuflucht im

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