Satori - Winslow, D: Satori - Satori
festgetretener Erde, das Publikum saß auf groben Holzbänken und aß Erdnüsse, wobei man die Schalen einfach auf den Boden fallen ließ, was zur gesamten Atmosphäre beitrug.
Auch das Thema der Aufführung war ein anderes – die Akrobaten aus Nikolais Kindheit hatten in bunten Kostümen als Könige, Generäle, Kurtisanen, Affen, Drachen und Tiger verkleidet ihre Kunststücke im Rahmen alter Volksmärchen aufgeführt. Die Darsteller an diesem Abend dagegen trugen Uniformen der Volksarmee, und die Kulisse bestand aus Plakaten mit plumpen politischen Szenen unter Überschriften wie »Die Volksarmee befreit das Volk aus den Fängen böser Imperialisten«, »Die Bauern setzen sich erfolgreich gegen den Gutsherrn zur Wehr« oder das unglaublich skurrile »Dijuan Fabrik #10 produziert einen Jahresrekord an Kugellagern«.
Doch auch in eine propagandistische Form gepresst war die akrobatische Vorführung fantastisch und äußerst unterhaltsam. Was den Kostümen an Farbe fehlte, machten die Athleten mit ihren Darbietungen wett, und Nikolai bestaunte fasziniert ihr Können. Sie ließen sich fallen, vollführten doppelte Saltos, schwangen sich an Bambusstangen herunter, balancierten auf Drahtseilen und bildeten unglaublich hohe menschliche Türme.
»Faszinierend, nicht wahr?«, fragte Woroschenin auf Französisch, als er an die Bank trat und sich zwischen Chen und Nikolai zwängte. »Verzeihung.«
Hinter Woroschenin stand ein irgendwie traurig wirkender Mann, und Nikolai fiel auf, dass der Russe ihm keinen Platz anbot. Der Mann war eindeutig ein Untergebener, aber seiner spindeldürren Gestalt nach zu urteilen kein Leibwächter.
Nikolai wandte sich um und stellte sich selbst vor. »Michel Guibert.«
»Wasili Leotow.«
»›Dijuan Fabrik #10‹ ist eins meiner absoluten Lieblingsstücke«, bemerkte Woroschenin und ignorierte die Begrüßung, wobei Nikolai nicht sicher war, ob er Ironie in seiner Stimme entdeckte. Deutlich allerdings roch er den Wodka in seinem Atem.
»Es ist hervorragend«, sagte Nikolai.
Die Manege wurde zu einem roten Meer, als einer der Darsteller eine riesige Flagge entrollte, von der die Akrobaten sich abstießen, um zu einer jeweils höheren Fahne zu gelangen. Es sah aus, als kletterten sie auf den roten Wolken der Dämmerung in den Himmel hinauf. Als der letzte Darsteller den höchsten Punkt erreicht hatte, hielt das Publikum den Atem an. Er balancierte mit einer Hand auf dem dünnen Bambusmast, zog mit der anderen die letzte Flagge aus seiner Jacke und schwenkte sie, während die Darsteller sangen: »Wir steigen immer höher auf den Schwingen des Vorsitzenden Mao.«
»Schon bald«, sagte Woroschenin, »wird es in diesem Land keine Kunst, keine Eleganz und keinen Charme mehr geben. Nur noch die Gedanken von Mao. Es wird zur Einöde verkommen.«
»Sie erlauben sich einen Scherz mit mir.«
»Trübe wie Spülwasser«, fuhr Woroschenin fort. Er neigte seinen Kopf Richtung Leotow, der noch immer direkt hinter ihm stand. »Und so hohl wie der hier, falls das überhaupt möglich ist.«
Nikolai war die Situation peinlich. Er rutschte so weit wie möglich zur Seite und fragte: »Möchten Sie sich setzen?«
»Er möchte nicht«, schaltete Woroschenin sich ein. »Er ist genau das, was Sie in ihm sehen, ein stummer Pfosten. Falls Ihnen jetzt noch nicht langweilig genug ist, dann ließe sich das mit ihm als Begleiter schnell ändern. Gespräche mit ihm sind so geistlos wie sein Gesichtsausdruck, was kaum vorstellbar ist, ich weiß. Ich meine, sehen Sie sich den Burschen doch an.«
Leotow fühlte sich sichtlich gedemütigt, sagte aber nichts. Dann beugte Woroschenin sich zu Nikolai vor und flüsterte auf Russisch: »Deine Mutter war meine Hure, Nikolai. Ich bin auf ihr geritten wie auf einer Stute.«
Nikolai spürte den Stachel der Beleidigung, ließ sich aber nichts anmerken. »Verzeihung, was haben Sie gesagt?«
»Nein, ich muss um Verzeihung bitten«, sagte Woroschenin. »Eine Sekunde lang ist mein Russisch mit mir durchgegangen. Manchmal vergisst man, in welchem Land man sich aufhält.«
Aber war da nicht doch ein leichtes Zucken gewesen?, fragte sich Woroschenin. Hatte er Verlegenheit in Nikolais Augen aufblitzen sehen?
Nikolai fragte sich dasselbe. Er kämpfte gegen die Wut an, die sich auf seinem Gesicht zu zeigen drohte, und fragte: »Was haben Sie gesagt?«
Woroschenin sah ihm direkt in die grünen Augen und sprach wieder Französisch.
»Nur, dass ich mich sehr auf den Opernbesuch
Weitere Kostenlose Bücher