Satori - Winslow, D: Satori - Satori
Freund. Aber meinetwegen, wenn Sie sich dadurch besser fühlen, greifen Sie an, attackieren Sie.«
An jenem Abend, als er einsam und alleine in seinem kang lag und Solange vermisste, litt Nikolai unter einer Krise des Geistes und der Seele. Durch seine Kindheit und Jugend war er mit den Grundsätzen der buddhistischen Philosophie vertraut – nur Unkundige würden von einer Religion sprechen oder Buddha als Gott bezeichnen – und wusste, dass Leid durch Bindungen entsteht, dass wir Gefangene unserer Sehnsüchte und Wünsche sind und durch sie dem endlosen Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt verhaftet bleiben. Er wusste, dass diese Sehnsüchte uns nach buddhistischem Glauben zu negativen Handlungen verleiten – Sünden, wenn man so will –, die schlechtes Karma ansammeln, welches wiederum im Verlauf mehrerer Leben abgegolten werden muss, und dass uns nur die Erleuchtung aus diesem Gefängnis befreien kann.
Er stand auf, nahm seine Taschenlampe und suchte Xue Xins Zelle auf. Der Mönch saß im Lotussitz und meditierte.
»Wollen Sie im Mondschein Ranken schneiden?«, fragte Xue Xin. »Tun Sie das, aber bitte ohne mich.«
»Ich möchte meine Freiheit.«
»Dann schneiden Sie Ranken.«
»Das überzeugt mich nicht«, erwiderte Nikolai. »Ich erwarte da schon mehr von Ihnen als zen-buddhistische Rätsel.«
Xue Xin schlug die Augen auf. »Sie leiden?«
Nikolai nickte.
Der Mönch stieß einen tiefen Atemzug aus, als würde er seine Meditation nur widerwillig beenden, und sagte: »Setzen Sie sich. Sie können keine Erleuchtung finden, Sie können sich nur öffnen, so dass die Erleuchtung Sie finden kann. Das ist satori .«
»Warum haben Sie den Begriff damals in Peking als Codewort gewählt?«, fragte Nikolai.
»Sie mussten die Dinge so sehen, wie sie wirklich waren«, erwiderte Xue Xin. »Sonst wäre Ihnen nicht zu helfen gewesen.«
»Wenn man satori nicht finden kann, wie …«
»Vielleicht liegt es in einem Regentropfen«, fuhr Xue Xin fort, ohne auf die Frage einzugehen, »dem entfernten Klang einer Flöte, dem Fallen eines Blattes. Natürlich muss man bereit dafür sein, sonst wird der Moment unbemerkt vergehen. Aber wenn Sie bereit sind, die Augen offen zu halten, werden Sie es sehen und plötzlich alles verstehen. Dann werden Sie wissen, wer Sie sind und was Sie tun müssen.«
»Satori.«
»Satori« , wiederholte Xue Xin. Und setzte hinzu: »Wenn unsere Gedanken uns gefangenhalten, dann ist es doch nur naheliegend, dass sie uns auch befreien können.«
Am darauffolgenden Morgen kam Yu zu ihm.
Die Chinesen nahmen sein Angebot an.
94
Normalerweise folgten Waffenlieferungen von China nach Vietnam einer Route durch Lang Son, dann über die Grenze und direkt nach Nordvietnam hinein, erklärte Yu, wo die Viet Minh in den bergigen Dschungelgebieten über sichere Rückzugsorte verfügten.
Aber diesen Weg würden sie nicht nehmen.
Die Bazookas wurden im Süden gebraucht, nicht im Norden.
»Für diese Informationen würden unsere Feinde eine Menge Geld bezahlen«, sagte Yu.
Allerdings, dachte Nikolai. Seit den letzten katastrophalen Kampfhandlungen im Süden hatten die Viet Minh ihre Aktivitäten auf den Norden beschränkt. Aber jetzt planten sie offenbar, ausgerüstet mit neuen Waffen, erneut eine Front im Süden zu eröffnen.
Die Viet Minh im Norden wurden von den Sowjets beherrscht, die im Süden waren unabhängig oder hatten sich mit China verbündet. Mit einer erfolgreichen Südoffensive würden die Karten, geopolitisch betrachtet, in ganz Asien neu gemischt werden.
Yu spielte riskant.
Da die Waffen zu den Einheiten der Viet Minh im Süden gelangen mussten, blieb nur eine einzige mögliche Route: über den Lekang nach Laos.
Das war keine leichte Aufgabe, erklärte er. Der Lekang floss durch tiefe Schluchten mit tosenden Stromschnellen und scharfkantigen Felsen, an denen ein Bootsrumpf zerschellen konnte wie eine Eierschale. Bis zum Südteil der Stadt Luang Prabang, mitten in Laos, war der Fluss nur unter großer Gefahr zu befahren.
Auch Luang Prabang selbst war problematisch. Dort würden sie die Boote wechseln müssen, um die Reise fortsetzen zu können, und in der Gegend wimmelte es nur so vor Spionen und Sondereinsatzkräften der Franzosen.
Und dann gab es noch die Binh Xuyen.
»Was sind die Binh Xuyen?«, fragte Nikolai.
»Piraten«, erwiderte Yu.
»Piraten?«, wiederholte Nikolai. In seinen Ohren klang das ziemlich anachronistisch.
Die Binh Xuyen, ursprünglich Flusspiraten
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