Satori - Winslow, D: Satori - Satori
hier?«
Der junge Mönch sah sich auf ulkige Art im Zimmer um. »Nein.«
»Dann hilf mir bitte aufzustehen.«
»Ich geh fragen.«
»Wenn du fragen gehst«, sagte Nikolai, »werde ich alleine aufstehen, solange du weg bist, und dabei wahrscheinlich hinfallen und sterben. Was wird Xue Xin dann mit dir machen?«
»Er wird mich mit dem Stock schlagen.«
»Siehst du.«
Der Mönch half ihm aus dem Bett. Nikolai belastete vorsichtig sein verletztes Bein. Der Schmerz war grässlich, und fast hätte sein Bein unter im nachgegeben, aber der Mönch stützte ihn, und sie gingen gemeinsam einmal quer durchs Zimmer.
Und wieder zurück.
Nachdem sie dreimal hin- und hergegangen waren, war Nikolai erschöpft und der Mönch half ihm wieder ins Bett.
Am nächsten Morgen ging er nach draußen.
Der Spaziergang vom Dorf zum Kloster, anfangs noch unter Schmerzen und sehr langsam, wurde ihm schon bald zur Gewohnheit, mit der er dreimal täglich seine körperliche und geistige Ausdauer trainierte. Wenn er mit unsicheren Schritten über die schmalen, steinernen Wege ging, konzentrierte er sich auf Details – versuchte einzelne Vögel aus der Kakophonie eines Dutzends unterschiedlicher Spezies herauszuhören, einzelne Affen an ihrem unablässigen Geschnatter und ihren Warnrufen zu erkennen, Pflanzen und Ranken unter den Tausenden von Arten in dem üppigen Wald zu unterscheiden.
Der Dschungel forderte das Kloster zurück.
Ranken trieben Risse in die alten Steine, verschluckten Säulen und Stufen, überzogen die Pavillons wie eine geduldige, beständige Flut von Go-Steinen auf einem Brett. Die Buddhastatuen jedoch spähten mit steinernen Blicken durch die Vegetation, zufrieden in der Gewissheit stetigen Wandels und des unweigerlichen Verfalls alles Körperlichen.
Die täglichen Spaziergänge taten Nikolais Gemüt gut, und mit jedem Tag nahm der Schmerz ab. Seine Kräfte kehrten zurück, bis er wieder entschlossen und zuversichtlich ausschritt. Auch sein Geist erholte sich, und schon bald dachte er wieder über die Zukunft nach.
Beinahe wäre er über den Mönch gestolpert.
Xue Xin kauerte auf Händen und Knien und schnitt vorsichtig mit einem kleinen Messer die Ranken von dem steinernen Pfad, der zu einem bescheidenen Stupa führte. Der Mönch trug ein schlichtes braunes Gewand, das von einem fast völlig ausgebleichten Gürtel an der Taille zusammengehalten wurde.
Er blickte ihn an und fragte: »Fühlen Sie sich besser?«
»Ja. Danke.«
Xue Xin stand langsam auf und verneigte sich. Nikolai verneigte sich daraufhin ebenfalls tief.
»Sie verneigen sich nicht wie ein Franzose«, sagte Xue Xin.
»Ich bin in China aufgewachsen«, erwiderte Nikolai. »Später in Japan.«
Xue Xin lachte. »Das erklärt alles. Die Japaner verneigen sich furchtbar gerne.«
»Ja, das tun sie«, pflichtete Nikolai ihm bei.
»Möchten Sie helfen?«, fragte Xue Xin.
»Verzeihen Sie mir«, sagte Nikolai, »aber die Aufgabe scheint unmöglich.«
»Nein, gar nicht. Ich schneide täglich die neu gewachsenen Ranken des vergangenen Tages ab.«
»Aber am nächsten Tag wachsen sie wieder nach«, sagte Nikolai. »Dann müssen Sie sie erneut schneiden.«
»Genau.«
Und so half Nikolai Xue Xin bei der nie endenden Aufgabe, den Pfad von Ranken zu befreien. Sie trafen sich jeden Morgen und arbeiteten einige Stunden, dann machten sie eine Pause und tranken Tee, während der Nachmittagsregen niederging. Nikolai erfuhr, dass Xue Xin im Kloster ein angesehener Gast war.
»Ich werde geduldet«, sagte Xue Xin. »Ich arbeite. Und Sie?«
»Ich weiß nicht, ob ich hier Gast oder Gefangener bin«, antwortete Nikolai wahrheitsgemäß, beließ es aber dabei.
»Wie im Leben auch«, schmunzelte Xue Xin. »Sind wir zu Gast oder sind wir Gefangene?«
»So, wie es uns das Leben diktiert, denke ich.«
»Keineswegs«, erwiderte Xue Xin.
»Wie meinen Sie das?«
»Es hat aufgehört zu regnen«, bemerkte Xue Xin, statt auf die Frage zu antworten. Sie gingen hinaus und setzten die Arbeit an dem Pfad fort.
Am nächsten Tag bemerkte Xue Xin: »Sie attackieren die Ranken, als wären sie Ihre Feinde.«
»Sind sie das denn nicht?«
»Nein, sie sind Ihre Verbündeten«, antwortete Xue Xin. »Ohne die Ranken hätten Sie keine Aufgabe, Sie könnten sich nicht nützlich machen.«
»Dann hätte ich eine andere Aufgabe«, entgegnete Nikolai ungehalten.
»Und würden gegen andere verbündete Feinde angehen«, sagte Xue Xin. »Es ist immer dasselbe, mein asiatisch-westlicher
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