Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
hatte sie nicht reagiert. Vielleicht hatte sie es noch nicht gesehen, während der Arbeit ließ sie ihr Handy im Büro. Schritt zwei, dachte er und hielt vor einem Blumenladen. Nach längerem Überlegen wählte er einen Strauß kleiner Rosen in allen Farben. Das würde ihr gefallen. Nichts Pompöses, kein Pathos, sondern harmlose kleine Blumen, das war das Richtige. Er fuhr bei ihr vorbei und legte ihr das Geschenk vor die Wohnungstür. Kurz nach 19 Uhr würde sie es wahrscheinlich finden.
Im Büro der Parlamentsdienste im Kaspar-Escher-Haus war es still. Raffaela Zweifel, die ihre Erkältung überstanden hatte, Carlo Freuler und Lina Kováts saßen an ihren Pulten an der Arbeit. Auf Marios Schreibtisch brannte eine Kerze. Das war Raffaela gewesen. Lina war gerührt gewesen, als sie es gesehen hatte, das hätte sie ihrer Kollegin gar nicht zugetraut. Sie hatte auch eine Karte für Marios Ex-Frau und seine Tochter gebracht, die alle unterschrieben hatten. Wann die Beerdigung stattfinden würde, wusste man noch nicht, Mario lag noch immer in der Rechtsmedizin. Auch das Datum von Angela Leglers Beerdigung war noch nicht bekannt. Das würde sicher eine größere Veranstaltung werden. Inzwischen ging der Ratsbetrieb weiter und im Büro war so etwas wie eine sehr fragile Normalität eingekehrt. Die Arbeit musste gemacht werden.
Carlo schrieb am Ratsprotokoll der gestrigen Sitzung. Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. ›Ich möchte den Punkt für die Zukunft legen‹, hörte er Simon Heftis Stimme aus dem Kopfhörer. Ärger wallte in ihm auf. Er hörte den Satz nochmals ab. Dann den Satz vorher und den Satz nachher. Das Gebilde machte immer noch keinen Sinn. Carlo fiel es schwer, sich zu beherrschen. Am liebsten hätte er alles hingeschmissen und wäre gegangen. Für immer. In seine Mansarde, um dort zu schreiben. Schöne, sprachlich vollkommene Sätze, die eine Bedeutung hatten, eine Tiefe. Das wäre die Erlösung, dachte er. All diese unförmigen Sprachgebilde, diese sinnlosen Aneinanderreihungen von irgendwelchen Wörtern, diese Sprachklumpen, die umzuformen so unverhältnismäßig viel Kraft kostete, das alles einfach hinter sich zu lassen und zu gehen. Es war schlimmer geworden in der letzten Zeit. Seit dem Tod von Angela Legler. Und noch mehr, seit Marios Leiche gefunden worden war. Sein Widerwille gegen diese Arbeit hatte sich verstärkt, sein Widerstreben, diesen sinnlosen Worthülsen einen Sinn abzuringen und sie in eine Form zu zwingen, wuchs. Es war ihm fast unmöglich geworden, seine Aufmerksamkeit zu bündeln und die Arbeit zu bewältigen. Schlimmer noch: Auch abends, in seiner Mansarde, fand er die Ruhe nicht mehr. Das Tagesgeschehen drängte sich hinein, schob sich zwischen ihn und seinen Text, seine Gedanken. Die letzten Abende hatte er, wie immer, an seinem Pult verbracht, aber ohne vorwärtszukommen. Er war nicht einmal imstande gewesen, das vorher Geschriebene zu überarbeiten. Er hatte auf die Fensterscheibe gestarrt, in der er sich undeutlich gespiegelt sah. Ein Schriftsteller, der nicht mehr schreiben kann, hatte er gedacht. Der Gedanke hatte ihn geängstigt. Was konnte er, wenn er nicht mehr schreiben konnte? Wer war er dann noch? Ehemann einer Frau, die ihn nicht brauchte. Vater von zwei Söhnen, für die er ein merkwürdiges Wesen war. Redaktor im Kantonsrat, dem die Politiker respektlos Satzfetzen wie angefaulte Früchte hinwarfen, die er zu polieren hatte. Ich möchte den Punkt auf die Zukunft legen. Wie würde seine Zukunft sein? Er musste das wieder voneinander trennen, seine Existenz als Rädchen in einem sinnlosen Betrieb, war das nun die Familie oder die Arbeit und sein eigentliches Leben, das sich auf den zehn Quadratmetern seiner Mansarde und in seinem Kopf abspielte. Ich möchte den Punkt für die Zukunft legen. Der Satz brachte ihn zur Verzweiflung, es schien ihm, als ob damit seine Existenz in diesem Büro zum Stillstand käme, als ob dieser eine Satz ihn endgültig besiegte, indem er einfach unfähig war, einen Sinn zu erkennen und zu formulieren. Panik stieg in ihm auf. Er saß ganz still, niemand durfte das merken.
»Carlo, kannst du mir etwas helfen?« Linas Stimme riss ihn aus seinem Zustand. »Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich habe hier einen Satz, mit dem ich nicht klarkomme.« Sie sah ihn an. »Bist du krank? Du schwitzt ja.«
»Nein, nein, es ist nichts«, wehrte Carlo ab. »Zeig mal.« Zusammen beugten sie sich über das Blatt
Weitere Kostenlose Bücher