Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)
Gegend schweifen. »Sehr natürlich. Sehr ursprünglich.« Er rennt auf den nächstgelegenen Hügel, um nach dem besten Baum- und Felsterrain Ausschau zu halten.
Ich warte an der Ecke auf ihn, gemeinsam mit zwei anderen Paläos. Der eine, John Durant, ist ein 26-jähriger Harvard-Absolvent mit dunklem, schulterlangem Haar und blauen Camouflage-Pants. Der andere heißt Vlad Averbuckh, ist 29 Jahre alt, hat kurze rote Haare und einen sorgsam gestutzten roten Bart. Er stammt aus Usbekistan und spricht mit einem kleinen Akzent. Wenn er nicht gerade durch die Wildnis rennt, fährt er einen roten Smart.
John und Vlad kennen sich bereits; in einem Artikel der New York Times über die Caveman-Bewegung wurden sie gemeinsam porträtiert.
Die beiden wechseln freundschaftlich ein paar Worte. Doch dann versucht Vlad, John zur reinen Lehre zu bekehren. Seiner Ansicht nach sollten Paläos grundsätzlich nur rohes Fleisch essen. Er selbst isst viel rohes Fleisch vom Weiderind und rohe Innereien. John hingegen hält den Verzehr von gegartem Fleisch für völlig legitim, weil der Mensch schon sehr früh entdeckte, das Feuer zu nutzen.
»Woher willst du das wissen?«, fragt Vlad.
John seufzt. »Auf diese Diskussion habe ich jetzt echt keine Lust.«
Vlad lässt John stehen, er wirkt verärgert. Offenbar zählt er zu den Fundamentalisten der Caveman-Bewegung, wohingegen John eher dem Reformflügel zuzuordnen ist.
Erwan ist inzwischen startklar. Wir ziehen unsere Pullover aus und deponieren sie hinter einem Felsen. Es ist ein kühler Tag, und die Sonne hat heute offenbar keine Lust auf Publikum, denn sie hat sich hinter ein paar Wolken zurückgezogen und weigert sich, zum Vorschein zu kommen. Ich umarme mich selbst in der Hoffnung, meinen Oberkörper so ein bisschen zu wärmen.
»Was meint ihr, warum trainieren wir mit bloßem Oberkörper?«, fragt Erwan. Er steht vor uns auf einem Felsbrocken. »Weil das besser für uns ist. Es härtet unseren Körper ab, was wiederum unseren Geist abhärtet. So können wir uns besser auf die jeweiligen Umweltbedingungen einstellen.«
Unsere Mannschaft zählt insgesamt fünf Mitglieder. Neben Vlad, John, Erwan und mir ist auch ein afroamerikanischer Caveman namens Rahsaan dabei. An der Seitenlinie hat nicht nur ein Fernsehsender Stellung bezogen, sondern gleich zwei Kamerateams filmen Erwans heutige Performance, eine deutsche und eine französische Crew. Letztere unter Leitung einer schwarz gekleideten Dame, der permanent eine Zigarette im Mundwinkel hängt.
Wir laufen auf der Stelle, um uns aufzuwärmen.
Vlad beugt sich zu mir und sagt: »Bin ich froh, dass du heute dabei bist. Sonst wäre ich ja der Untrainierteste von allen.«
Sicherheitshalber wirft er noch einmal einen Blick auf meine Brust.
»Äh, danke«, sage ich.
»Das ist nicht als Beleidigung gemeint, sondern einfach eine Tatsache.«
Ich habe mal einen Artikel über eine Bewegung namens »Radikale Ehrlichkeit« geschrieben, deren Anhänger den Sicherheitsfilter zwischen Hirn und Mund entfernen. Die Überschrift des Artikels lautete: »Mensch, bist du dick geworden«. Und die Recherche für dieses Thema war unterm Strich eine extrem unangenehme Erfahrung. Ich frage mich, ob Vlad vielleicht auch dieser Bewegung angehört.
Erwan hält einen kleinen Einführungsvortrag über die Bedeutung sportlicher Aktivität in der freien Natur. Er zeigt auf Felsen und Hügel und auf den unebenen Grund unter unseren Füßen. »Das hier ist viel besser als ein Gym. Unser Körper und unser Gehirn müssen sich pausenlos anpassen – nicht so wie im Fitness-Studio, wo man nach Schema F einen Muskel nach dem anderen trainiert.« Er ahmt einen Bizepscurl nach.
»Erstens bringt das nicht viel, und zweitens ist es langweilig.«
Wir fangen mit einer Laufrunde an. Hintereinander rennen wir durch das raschelnde Laub und bemühen uns, möglichst nicht auf Glasscherben oder vorstehende Steine zu treten.
Wir laufen so, wie Erwan es uns erklärt hat. Oder wir versuchen es zumindest. Animalische Eleganz – das ist das Ziel. »Macht euch locker«, hatte Erwan gesagt. »Lauft leicht vornübergebeugt und lasst euch einfach von der Schwerkraft vorwärts ziehen. Kein kraftvolles Aufstampfen bitte. Macht kleine Schritte und landet geschmeidig auf den Zehenspitzen. Ihr müsst auch nicht dynamisch die Arme schwingen; lasst sie einfach baumeln.«
Also für mich und meinen guten alten Armschwing-Aufstampf-Laufstil fühlt sich das alles andere als »ganz natürlich«
Weitere Kostenlose Bücher