Saukalt
wurden sie brav und gingen gesittet auf ihn zu. Ganz
artig grüßten sie ihn, und er fragte beiläufig, wo sie hingingen. Und wie fast
jeden Tag waren die beiden Halbwüchsigen auf dem Weg zum Wenger, um dort am
Flipper zu spielen. Da konnte der Strobel nicht anders als sie zu fragen, was
eigentlich ihr Vater dazu sagte, wenn sie den ganzen Nachmittag im Wirtshaus
verbrachten. Und siehst du, die Antwort gefiel dem Strobel gar nicht. Die Buben
meinten nämlich, dass es ihren Eltern egal war, was sie den ganzen Tag über so
trieben. Würde ihm das heute ein Kind sagen, wäre er wahrscheinlich nicht
schockiert und schon gar nicht überrascht. Weil heutzutage gibt es unheimlich
viele Eltern, denen es wurscht ist, was ihr Nachwuchs so treibt, so lange
halbwegs Ruhe herrscht. Damals war das noch ein bisschen anders. Besser, würden
die älteren Leute sagen. Aber das weiß man nicht genau. Der Strobel jedenfalls
hatte fast ein bisschen Mitleid mit den Buben. Deshalb ersparte er ihnen auch
einen Vortrag darüber, wie sinnlos ihre Freizeitbeschäftigung in seinen Augen
war. Stattdessen wünschte er ihnen viel Spaß und setzte seinen Weg fort.
Insgeheim machte er sich Gedanken darüber, was wohl aus den beiden werden
sollte, wenn sich ihre Eltern nicht um sie kümmerten, sondern sie einfach vor
die Tür stellten. Vom erzieherischen Standpunkt her fand er es jedenfalls
bedenklich, dass der Lanzinger seinen Kindern so viel Taschengeld gab und sich
offenbar nicht viel darum scherte, was die Kinder damit machten. Ich meine, in
modernen Haushalten kommt so etwas wahrscheinlich deshalb öfter vor, weil beide
Elternteile berufstätig sind. Ob das daran liegt, dass die Frauen anders denken
als früher und mit ihrer Rolle als Heimchen am Herd einfach nicht mehr zufrieden
sind, oder ob es nicht anders geht, weil die Familie sich sonst das Leben nicht
leisten kann, das sie führt, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann und
auch gar nicht will. Fest steht nur, dass es oft so ist, dass weder die Mutter
noch der Vater genügend Zeit haben, um sich um ihre Sprösslinge zu kümmern. Die
lieben Kleinen werden mit Fernsehen, Computerspielen und Ähnlichem beschäftigt
oder derart mit Taschengeld eingedeckt, dass sie es sich leisten können, mit
ihren Freunden in Lokale zu gehen. Keinen kümmert das so richtig. Bis dann
einmal etwas Schlimmes passiert. Dann fragen sich alle Beteiligten, wie, um
Gottes willen, es so weit kommen konnte. Und dann sind alle schuld, nur die
Eltern nicht. Zumindest kommt es einem manchmal so vor. Vielleicht täuscht
dieser Eindruck aber auch. Wer weiß? Der Strobel jedenfalls war ein paar
Minuten später beim Pfarrhaus und läutete an der Tür. Der Pfarrer Römer zeigte
sich sichtlich überrascht, den Strobel um diese Zeit zu sehen, und vermutete
deshalb gleich, dass sein Freund diesmal dienstlich kam. Der Besuch brachte
allerdings nicht viel, weil die Frau immer noch nicht ansprechbar war. Alles,
was der Römer sagen konnte, war, dass sie öfter im Schlaf redete. Allerdings
verstand er nicht, was sie sagte, weil es so leise und undeutlich war. Deutsch,
so glaubte er aber, war es nicht. Er nahm eher an, dass es eine slawische
Sprache war. Das einzige Wort, das der Pfarrer verstehen konnte, war der Name
›Irina‹, den sie immer wieder murmelte. Sonst nichts. Dann erzählte Hochwürden
noch, dass sich der Doktor Lasser ihre Verletzungen noch einmal genauer
angeschaut und gemeint hatte, dass die Frau wahrscheinlich regelrecht gefoltert
worden war. Diese Neuigkeit löste beim Strobel Bestürzung aus. Weil eine Frau
zu schlagen gehörte damals offiziell genau so wenig zum guten Ton wie
heutzutage. Ich meine, natürlich kam es auch damals viel häufiger vor, als man
annehmen mochte. Der Unterschied zu heute war, dass sich nicht so viele Opfer
getrauten, ihre Peiniger anzuzeigen. Früher haben die Frauen ihr Schicksal
tapfer ertragen, weil das von ihnen erwartet wurde. Da war noch lange keine
Rede von einem Gesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie, wie es das, so
traurig es auf einer Seite auch ist, heute gibt. Von einer Wegweisung oder
einem Betretungsverbot erst gar nicht zu reden. Wie dem auch sei. Folter war
jedenfalls etwas, das nicht alltäglich war. Damals so wenig wie heute. Außer
den gestohlenen Kleidungsstücken trug sie nur teure Satinunterwäsche.
Kombiniert mit den kaputten Gummistiefeln nicht gerade das Outfit, mit dem eine
hübsche junge Frau unter normalen Umständen das Haus verlassen würde.
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