Saxnot stirbt nie - Odo und Lupus Kommissare Karls des Grossen - Zweiter Roman
war er ein vollkommen anderer Mensch. Ich tadle immer wieder seinen Hochmut, doch versuche ich auch zu verstehen, dass ein gläubiger, gebildeter Mann wie er gegen Rückständigkeit und Rohheit Abscheu empfindet. Leider gibt es das hier noch im Übermaß. Und ausgerechnet sein eigener Bruder – um genauer zu sein: sein Halbbruder, denn sie hatten nicht dieselbe Mutter – ist einer der Schlimmsten und Rohesten. Ihr habt ja gesehen, wie er das Reliquiar unseres Heiligen behandelte.“
Odo und ich sahen uns an. Odo blinzelte, riss die Augen auf. Die nächtlichen Mühen bei der Begleichung der Herbergsrechnung und drei Becher Willkommenswein verlangten ihren Tribut. Schon war ihm der Kopf auf die Brust gesunken und es waren gerade noch die Worte „Reliquiar unseres Heiligen“, die ihn im letzten Augenblick aufmerken ließen.
„Wie war es denn möglich“, fragte ich, „dass er das Reliquiar so einfach an sich bringen konnte?“
„Eine dumme Geschichte!“ Der Graf rieb sich verlegen die Hände. „Gestern wurde versäumt, es zu verwahren - in der kleinen Grabkammer im Chor, in die er es dann hinein gesenkt hat, wie Ihr gesehen habt. Nur Erk ist imstande, die Steinplatte allein zu heben, sonst gehören zwei Männer dazu. Es war aber gestern Abend niemand da, weil alles, was Beine hatte, eine Gaunerbande verfolgte. Wig verschloss daher nur die Kirche, ließ aber den Schrein auf dem Altar stehen.“
„Ihr sagt, eine Gaunerbande …“
„Stellt Euch das vor! Je mehr man die Wunderkraft unseres Heiligen rühmt, desto mehr Pilger strömen herbei. So auch gestern, am Feiertag. Plötzlich kam es zu einem Zwischenfall. Eine Gruppe von Siechen und Krüppeln drang in die Kirche ein und scharte sich um das Reliquiar. Mir kamen die Leute gleich verdächtig vor, aber bei dem Stoßen und Schieben, das sie verursachten, war es unmöglich, etwas zu unternehmen. Wie recht ich behielt! Nach kurzer Zeit gaben sie vor, geheilt zu sein und suchten jubelnd und springend das Weite. Und bald darauf stellten wir fest, dass von den ausgestellten Weihgaben dankbarer Menschen, die tatsächlich durch unseren Heiligen ihre Gesundheit wiedererlangt hatten, neun wertvolle Goldmünzen fehlten. Aber die Diebe waren verschwunden. Vermutlich waren es Gaukler, die sich verstellt hatten. Was sagt Ihr dazu?“
Die blauen Augen blickten bekümmert und schienen uns gleichzeitig tief in die Seele zu leuchten. Ich hatte auf einmal dasselbe Gefühl wie vor vielen Jahren als Klosternovize, wenn mich mein strenger Beichtvater fragte: „Hast du eine Sünde verschwiegen?“
Odo räusperte sich unbehaglich.
„Ihr habt keine Ahnung, wo sie jetzt sind?“
„Wir konnten sie nirgends mehr finden. Ich weiß nicht einmal, in welche Richtung sie sich gewandt haben.“
„Auch von Bozo habt Ihr nichts erfahren?“, fragte Odo rasch und wie beiläufig.
„Meint Ihr Bozo, den Fährmann?“
„Ja!“
„Was sollte ich von ihm erfahren haben?“
„Er war doch hier …“
„Wann?“
„Heute Nacht.“
„Davon weiß ich nichts“, sagte der Graf erstaunt. „Wie kommt Ihr darauf?“
Odo warf Lupus einen Blick zu, der sagte: Entweder legen wir ihn jetzt herein oder wir stehen beide als Narren da!
„War der Ermordete, dieser Hatto, gestern unter Euren Gästen?“, fragte Lupus den Grafen.
„Warum wollt Ihr das wissen? Ja, er kam gegen Abend. Wie gewöhnlich war er sehr schnell betrunken und ich ließ Erk rufen, damit er ihn fortbrachte, in sein Haus.“
„Heute Morgen wollte er uns entgegen reiten.“
„Euch? So wusste er, dass Ihr heute hier eintreffen würdet?“
„Das sagten uns jedenfalls die Bauern.“
„Und daraus schließt Ihr, dass Bozo hier war, um Eure Ankunft zu melden?“
„Anders ist es uns nicht erklärlich.“
„Nun, wenn es so war, ist seine Botschaft jedenfalls nicht bis zu mir gedrungen. Oder glaubt Ihr, meine Herren, ich wäre nicht selbst zu Pferde gestiegen und so hoch gestellten edlen Gästen entgegen geritten, wenn ich von Eurer Ankunft gewusst hätte?“
Odo wollte sich noch nicht geschlagen geben.
„Wir haben auch andere Gründe zu vermuten, dass Bozo heute Nacht hier war. Sollte er nur zu diesem Hatto gegangen sein?“
„Und warum nicht?“, meinte Volz. „Ich sagte Euch ja schon, dass ich Hatto nur duldete. Auch die anderen Männer meines Gefolges sahen ihn ungern. So hielt er sich an Leute geringeren Standes, bei denen er etwas galt, wie Bozo. Das ist ein Franke, wie Ihr wohl bemerkt habt, mit etwas
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