Sayers, Dorothy L. - Lord Peter 02 - Diskrete Zeugen
morgens – und nicht gern damit gesehen werden wollte.«
»Wann hätte er ihn dann wieder weggenommen?«
»Ziemlich bald, würde ich sagen. Vor Tagesanbruch jedenfalls, sonst hätte sogar Inspektor Craikes ihn schwerlich übersehen können.«
»Es wird doch nicht die Tasche des Arztes gewesen sein?«
»Nein – sonst wäre der Arzt ein schöner Trottel. Warum eine Tasche so unbequem weit weg auf den feuchten Boden stellen, wenn er sie so vernünftig und praktisch gleich neben der Leiche abstellen konnte? Nein. Wenn nicht Craikes oder der Gärtner das Ding haben herumstehen lassen, dann wurde es Mittwoch nacht entweder von Gerald, Cathcart – oder, wie ich vermute, von Mary dort abgestellt. Sonst wüßte ich niemanden, der dort etwas verstecken sollte.«
»Doch«, sagte Parker, »einen.«
»Und wer soll das sein?«
»Der Unbekannte.«
»Wer ist das?«
Zur Antwort schritt Parker stolz auf eine Reihe hölzerner Rahmen zu, die sorgsam mit Matten abgedeckt waren. Diese zog er fort wie ein Bischof die Hülle vom Denkmal, und darunter kam eine V-förmige Reihe von Fußabdrücken zum Vorschein.
»Die hier«, sagte Parker, »gehören zu niemandem – ich meine, zu niemandem, von dem ich je etwas gesehen oder gehört hätte.«
»Hurra!« sagte Peter.
» Und abwärts von des Berges Grat
Sie folgten der kleinen Spur
(allerdings ist sie eher groß).«
»So einfach ist es leider nicht«, meinte Parker. »Sagen wir lieber:
Sie folgten von dem erd'gen Weg
Der Spur im Morgenlicht
Bis auf der Brücke schmalen Steg ,
und weiter ging sie nicht.«
»Großer Dichter, dieser Wordsworth«, sagte Lord Peter. »War schon immer meine Meinung. Also, sehen wir mal. Diese Fußabdrücke – von einem Mann, Schuhgröße 45 mit schiefen Absätzen und einem Flicken an der linken Innenseite – kommen vom festen Weg, auf dem keine Spuren zu sehen sind; sie nähern sich der Leiche – hier, wo die Blutlache ist. Sag mal, das ist doch komisch, findest du nicht? Nein? Na ja, vielleicht nicht. Ob keine Spuren unter der Leiche sind? Schwer zu sagen, das ist alles so ein Matsch hier. Also, der Unbekannte kommt bis hierher – hier ist ein sehr tiefer Abdruck. Wollte er Cathcart einfach in den Brunnen werfen? Er hört ein Geräusch, schrickt zusammen, macht kehrt und rennt auf leisen Sohlen – ins Gebüsch, beim Zeus!«
»Eben«, sagte Parker, »und von da führt die Spur zu einem Graspfad im Wald und endet dort.«
»Hm! Na schön, wir gehen ihr später nach. Aber zunächst: Wo kommt sie her?«
Die beiden Freunde folgten gemeinsam dem Weg, der vom Haus wegführte. Der Kiesboden war bis auf den kleinen Flecken vor dem Wintergarten alt und hart und wies kaum Spuren auf, vor allem nachdem es die letzten Tage geregnet hatte. Parker konnte Wimsey jedoch versichern, daß dort deutliche Schleif- und Blutspuren gewesen waren.
»Was für Blutspuren? Tropfen?«
»Nein, verschmiertes Blut. Auf dem ganzen Weg waren auch Furchen in den Kies gekratzt. Und hier kommt nun etwas Merkwürdiges.«
Es war der deutliche Abdruck einer Männerhand, tief in die Erde an der Rasenkante eingedrückt, mit den Fingern zum Haus. Auf dem Kiesweg waren zwei lange Furchen zu erkennen. Das Gras zwischen Weg und Beet war blutverschmiert, und die Kante stark zertreten.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Lord Peter.
»Häßlich, wie?« stimmte Parker zu.
»Der arme Teufel!« meinte Peter. »Er hat verzweifelt versucht, sich hier festzukrallen. Das erklärt auch das Blut an der Wintergartentür. Aber was für ein Ungeheuer schleift eine Leiche durch die Gegend, die noch nicht einmal ganz tot ist?«
Ein paar Schritte weiter mündete der Pfad in den Hauptzufahrtsweg. Rechts und links von diesem standen Bäume, die sich zu einem Dickicht weiteten. An der Stelle, wo die beiden Wege sich trafen, fanden sich weitere undeutliche Spuren, und noch einmal rund zwanzig Schritte weiter schwenkten sie ins Dickicht ab. Irgendwann war hier einmal ein großer Baum umgestürzt und hatte eine kleine Lichtung hinterlassen, in deren Mitte jetzt eine Plane ausgebreitet und am Boden befestigt worden war. Die Luft roch schwer nach Pilzen und gefallenem Laub.
»Der Schauplatz der Tragödie«, sagte Parker kurz und rollte die Plane zurück.
Lord Peter starrte traurig zu Boden. Eingemummt in einen Mantel nebst dickem grauem Schal wirkte er mit seinem langen, schmalen Gesicht wie ein Marabu. Der zappelnde Körper des gestürzten Mannes hatte das modernde Laub aufgewühlt und einen tiefen
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