Sayuri
der Stadt zu gefährlich geworden. Jeden Tag brachten die Eilboten neue Berichte, wie die Taller-Banden in der neuen Stadt rebellierten. Sie kämpften mit allen Mitteln gegen die Soldaten und hatten schon so manchen Sieg davongetragen. Notgedrungen wurde deshalb sogar im inneren Kreis nach den Sechzehnjährigen gesucht, obwohl Miro die Liganer erst einmal hatte verschonen wollen. Ganze Trupps von Jungen und Mädchen, die man aufgespürt hatte, hatten die Stadt verlassen müssen. Unter Miros mitleidlosem Blick waren sie mit dem Bannmal belegt, von den Soldaten vor die Stadttore geführt und in der Wüste ihrem Schicksal überlassen worden.
Kiyoshi hatte die Berichte kaum ertragen können, aber er durfte nichts überstürzen, um sein Vorhaben nicht zu gefährden.
Und ausgerechnet jetzt, wo der Zeitpunkt endlich gekommen war, seinen Plan in die Tat umzusetzen, musste er Rajar über den Weg laufen? Nicht einmal eine gute Ausrede wollte ihm einfallen.
Hilflos zuckte er mit den Schultern. »Ich kann es dir nicht erklären, Rajar«, sagte er. »Du musst mir einfach vertrauen.«
Rajar schnaubte nur. »Ach ja?«, brummte er. Dann machte er eine abwehrende Handbewegung. »Vielleicht besser, ich weiß es nicht«, sagte er resigniert. »Wann bist du zurück?«
»Heute Abend?«, schlug Kiyoshi vor.
»Spätestens zur Wachablösung«, verlangte Rajar.
»Sag mal, bist du mein Onkel?«, konterte Kiyoshi. »Seit wann stellst du die Regeln für mein Leben auf?«
»He!«, empörte sich Rajar. »Ich bin verantwortlich, wenn dir da was passiert, und da draußen ist es zurzeit alles andere als ruhig! Du hast doch keine Ahnung!«
Einen Augenblick lang funkelte Kiyoshi seinen Freund wütend an.
Er hatte keine Ahnung?
Nur gut, dass Rajar alles so genau wusste! Er hasste es, wenn Rajar sich so aufspielte. Einen Moment erwog er, ihm einfach alles zu sagen, von dem belauschten Gespräch, der Lüge, die Miro verbreitete, und von seinem Vorhaben. Aber Rajar würde sich nicht so einfach überzeugen lassen.
Und er konnte mitten im Hafen keinen Streit mit ihm riskieren. Einige der Soldaten schauten schon zu ihnen herüber und Kiyoshi sah seine Chancen schwinden, sich unbemerkt auf eins der Boote zu stehlen.
Er nickte mit zusammengebissenen Zähnen. »In Ordnung«, sagte er schließlich.
Rajar trat einen Schritt zur Seite und plötzlich sah Kiyoshi, dass sein Freund ernsthaft besorgt war. »Verspäte dich nur nicht«, sagte er leise. »Sonst lass ich dich suchen. Wirklich, das ist dort draußen gerade kein Spaß.«
Kiyoshi nickte beruhigend. »Ehrenwort, Rajar«, erwiderte er. »Ich verspreche es dir.«
Sein Plan war so simpel wie wahnwitzig. Aber Kiyoshi war fest entschlossen, Licht in das Dunkel zu bringen, das das heimlich mitgehörte Gespräch zwischen Miro und dem Wiljar hinterlassen hatte. Und er wusste genau, wo er mit seiner Suche anfangen wollte.
Er kauerte zwischen den leeren Kisten eines der Lastenboote, die den Palast in Richtung Markt verließen. Das Boot war dazu bestimmt, Früchte und Gemüse in den Palast zu liefern, und Kiyoshi rümpfte die Nase, als ihm der Geruch verfaulter Berensfrüchte in die Nase stieg, die den Kästen anhafteten.
Bislang schien der Bootsführer nichts von seinem blinden Passagier mitbekommen zu haben. Pfeifend steuerte er sein Gefährt durch die verschlungenen Wasserwege des Palastes und hinaus in die Stadt.
Kiyoshi hatte vor, in Höhe des ersten Tores, wenn der Bootsführer abgelenkt war, ans Ufer zu springen. Von dort wollte er sich auf den Weg zum Schrein machen.
Im Haus seiner Mutter hatte Kiyoshi einen alten Umhang gefunden, dazu hatte er sich einen Schal um den Kopf geschlungen. Er hoffte, dass die Verkleidung ausreichte, um unerkannt die Straßen passieren zu können, bis er den Schrein erreichte.
Jahr für Jahr, am Tag nach Lauryns Frühling, ergänzten die Sterndeuter das Buch der Prophezeiungen um ihre Beobachtungen und Deutungen. Es war uralt – es hieß, man führte es seit Anbeginn der Stadt.
Wenn also an der Vorhersage der Deuter vor sechzehn Jahren etwas Wahres dran sein sollte – so wie Miro es in seiner Rede ans Volk behauptet hatte –, dann würde sie im Buch der Prophezeiungen zu finden sein. Wenn nicht, hatte Kiyoshi den Beweis dafür, dass Miro nicht die Wahrheit gesagt hatte. Und er war fest entschlossen, seinen Onkel mithilfe dieses Wissens zur Rede zu stellen.
Gefährlich war nur der Weg zum Schrein, danach würde es ein Kinderspiel sein, an das Buch zu
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