Scatterheart
verloren. Sie gingen zwar bergauf, aber die drei gelben Felsen waren verschwunden. Sie dachte an Thomas’ Märchen von der schlafenden Prinzessin und dem riesigen Dornenwald, der ringsumher gewachsen war.
»Hannah! Hannah!«
Hannah schaute sich um. Mollys Stimme klang sehr aufgeregt.
»Hannah! Beeil dich!«
Der Wald war unheimlich. In dem dichten Wildwuchs pflanzten sich die Geräusche in alle Richtungen fort. Hannah wandte sich hierhin und dorthin und ging schließlich in die entgegengesetzte Richtung als beabsichtigt. Sie brach durch ein dichtes Gewirr aus grünen Zweigen und entdeckte endlich Molly, die am ganzen Leib zitternd auf dem Boden kauerte.
»Molly? Was ist denn los?«, fragte Hannah.
Molly drehte sich um und Hannah bemerkte verblüfft, dass sie lachte.
»Komm schnell«, flüsterte sie.
Hannah ging ebenfalls in die Hocke. Vom Gebüsch halb versteckt war das seltsamste Tier, dem Hannah je begegnet war.
Es war ungefähr so groß wie ein großer Hase oder ein kleiner Hund und sah aus wie eine umgedrehte Teetasse. Ein kuppelförmiger Klumpen, der auf dem Waldboden kauerte. Es hatte eine lange schwarze Schnauze und zweiglänzende Knopfaugen. Das Merkwürdigste aber war sein Fell aus dicken gelben und braunen Stacheln.
»Ist das ein Riesenigel?«, fragte Molly.
Hannah zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
Molly kicherte. Das Tier drehte den Kopf und schnüffelte mit seiner langen Nase. Dann erhob es sich auf seine vier Stummelbeinchen, die mit langen Krallen versehen waren. Durch seine Stacheln lief ein Beben und schließlich watschelte es davon und verschwand im Laub.
Hannah und Molly lachten, als sie sahen, wie sich das drollige Tier bewegte.
»Also das war echt leicht«, sagte Molly.
»Was war leicht?«
»Die zweite Prüfung.«
Hannah starrte sie verständnislos an.
Molly lächelte. »Das Stachelfeld. In der Geschichte von Mr Bär. Das Tier war das Stachelfeld, das Scatterheart überwinden muss.«
Hannah lachte. »Komm weiter«, sagte sie, »wenn wir diesen Hügel geschafft haben, legen wir eine Pause ein.«
Sie gingen weiter bergan, das Lachen hatte sie aufgemuntert. Aber schon nach wenigen Minuten blieb Molly wieder stehen.
»Was ist los?«, fragte Hannah.
»Riechst du nichts? Es riecht nach Asche und Tod.«
Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, ich rieche nichts«, sagte sie.
Molly fiel hinter Hannah zurück und fühlte sich sichtlich unbehaglich. Nach einer Weile konnte Hannah doch etwas riechen. Es erinnerte sie an verkohltes Toastbrot.
»Können wir nicht einen anderen Weg gehen?«, fragte Molly.
»Ich weiß nicht, ob es einen anderen Weg gibt.«
Der Geruch wurde immer intensiver. Ein dünner Rauchschleier vernebelte ihre Sicht. Die Bäume flüsterten und raschelten im Wind. Vom Himmel schwebte etwas nach unten.
»Schnee!«, rief Molly. »Es schneit!«
Tatsächlich, kleine weiße Teilchen wirbelten auf sie herab. Hannah streckte ihre Hand danach aus. Sie waren nicht kalt wie Schnee und sahen eher wie winzige Papierschnipsel aus. Hannah berührte vorsichtig eins mit dem Finger und es zerfiel zu nichts.
»Das ist kein Schnee«, sagte sie. »Das ist Asche.«
Sie arbeiteten sich durch eine Mauer aus Buschwerk und standen auf einmal vor einer großen schwarzen Fläche.
So weit das Auge reichte, war alles verbrannt, das Gras, alle Pflanzen – geblieben waren nur versengte Erde und verkohlte, kahle Baumstümpfe.
»Lass uns lieber zurückgehen«, bat Molly leise.
Hannah nahm ihre Hand und lächelte aufmunternd.
»Schau dir nur all diese Baumstümpfe an. Vielleicht ist das das Stachelfeld aus der Geschichte. Komm, wir gehen weiter.«
»Aber wir verbrennen uns doch«, sagte Molly und fasste sich an ihr Wachsgesicht.
Hannah drückte ihre Hand. »Nein, bestimmt nicht. Wir haben doch feste Stiefel an. Und wir werden ganz vorsichtig sein.«
Sie staksten über die verbrannte Erde, an verkohlten Baumskeletten vorbei. Bald befanden sie sich inmitten des schwarzen Waldes. Manche Baumstümpfe waren noch nicht ganz erloschen und glühten in ihrem Inneren orangerot. Hier und da sahen sie auch verkohlte Tierkadaver. Der scharfe Rauchgeruch brannte Hannah in den Augen und brachte Molly zum Husten.
In dem schwarzen Wald herrschte eine unheimliche Stille. Kein Vogel kreischte. Kein Blatt raschelte, wenn der Wind durch die toten Bäume streifte.
Die Asche schwebte leise nach unten und setzte sich auf dem Boden ab, bis ein neuer Windstoß sie wieder hochwehte. Manchmal unterbrach ein
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