Scatterheart
Augen zu.
»Nicht hinsehen«, fuhr er sie an und verzog das Gesicht. Hannah stieß James’ Hand fort und blickte zu den Eingeborenen zurück, die sich immer weiter entfernten. Sie überlegte, dass die Frau sie möglicherweise auch als abstoßend empfunden hatte.
»Hannah«, sagte James scharf, »ich möchte nicht, dass du dir solch eine vulgäre Zurschaustellung von …«, er suchte nach einem geeigneten Wort, das seinen Abscheu am besten zum Ausdruck brachte, »Unzivilisiertheit ansiehst.« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Verdammte Murkys. Nicht einmal zum Arbeiten sind sie etwas nütze. Sie sind schlimmer als Sträflinge.«
Am späten Nachmittag dieses Tages machte das Boot am Stadtrand von Sydney fest. Hinter dem kleinen Landungssteg befanden sich ein paar baufällige Holzhütten. Es stank nach Mist. An einem Pfosten war eine dreckige Ziege angebunden, die kläglich meckerte. Für Hannah und James stand eine Kutsche bereit, die sie in ihr Hotelbringen sollte. Ein paar magere Kinder tanzten um das Kutschpferd herum – Pferde waren rar in der Kolonie und nur Reiche konnten es sich leisten, sie für anderes als Feldarbeit einzusetzen.
James reichte Hannah die Hand, um ihr in den Wagen zu helfen. Doch sie ignorierte ihn und stieg selbstständig ein. James folgte ihr und klopfte wütend von innen gegen das Dach. Der Kutscher rief dem Pferd einen scharfen Befehl zu, worauf sich das Gefährt rumpelnd in Bewegung setzte.
Hannah spähte aus dem Fenster und betrachtete neugierig die größer werdende Stadt. Bei ihrer Ankunft hatte sie davon kaum etwas mitbekommen. Die Straßen waren breit und meist unbefestigt, einige jedoch mit gelbem Sandstein und manche mit einer Art Holzbohlen gepflastert. Die Gebäude waren von schlichter Eleganz. Sie waren aus dem offenbar überall vorhandenen Gelbsandstein oder aus weiß getünchten Brettern gebaut. Die kleineren Häuser standen in ordentlichen Reihen nebeneinander. Sie hatten schattige Veranden und überaus gepflegte, von Geranienhecken gesäumte Gemüsegärten.
Sie fuhren an einem vornehmen dreistöckigen Sandsteinhaus vorüber, dessen eleganter Balkon weit über die Straße hinausragte. Darunter saß ein makellos gekleideter Herr in einem Rohrstuhl und nippte an einem hohen Glas. Er sah sehr gut aus und winkte Hannah zu, als sie aus dem Kutschfenster zu ihm herüberblickte.
»Abschaum«, schimpfte James.
»Wieso, ist er kein Gentleman?« Hannah war überrascht. »Ein Gentleman! Das ist Simon Lord. Ein Ex-Sträfling. Hat sein Vermögen durch
Handel
gemacht.«
James sprach das Wort Handel aus, als wäre es ein Fluch. »Oh«, machte Hannah nur und wandte sich zu dem herrschaftlichen Haus um. Es wirkte viel vornehmer als das hässliche, gedrungene Haus von James.
»Eins musst du lernen, Hannah«, sagte James. »Geld ist kein Zeichen für Vornehmheit. Egal wie nobel dein Haus ist. Einmal Abschaum, immer Abschaum.«
Hannah schwieg, aber sie dachte daran, dass James’ Vater seinen Reichtum durch den Verkauf von Knöpfen erworben hatte.
James zeigte aus dem Kutschfenster. »Siehst du die Damen dort auf der Veranda? Sie tragen edle Kleider und Seidenpantöffelchen, doch schau dir ihre Hände und Gesichter an. Schmutzig wie die Säue.« Wieder zeigte er aus dem Fenster. »Und dieser junge Stutzer dort drüben. Er muss natürlich an jedem Finger einen Ring tragen. Seine Manschettenknöpfe sind wahrscheinlich mit Edelsteinen besetzt und seine Taschenuhr ist aus massivem Gold. Aber er hat weder Gamaschen noch Strümpfe an. Um Himmels willen, man kann sogar seine Knöchel sehen!« Der Abscheu war ihm deutlich anzuhören und Hannah erinnerte sich beschämt an die maßgeschneiderten Mäntel und gewichsten Reitstiefel ihres Vaters. Dann dachtesie an Thomas’ schlecht sitzende Konfektionsanzüge und seine schiefe Brille und seufzte.
Die Kutsche rumpelte weiter die Straße entlang und überquerte einen lebhaften Markt, wo es nach Fisch und faulendem Obst stank. In Käfigen flatterten und kreischten bunte Vögel.
Es gab auch Menschen, die in Käfigen saßen. Sie waren halb verhungert und die Haut spannte sich über ihren Knochen. Ein Mann hatte auf Brust und Rücken gar keine Haut mehr. Sein entzündetes Fleisch leuchtete wie das Brandmal auf Mollys Gesicht, und das Schlüsselbein stak weiß aus seinem geschundenen Fleisch hervor, es sah wie die Spitze des Spazierstocks ihres Vaters aus. Hannah schaute schnell zur Seite. Ihr war übel.
»Was ist mit dem Mann?«, fragte
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