Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scatterheart

Scatterheart

Titel: Scatterheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lili Wilkinson
Vom Netzwerk:
hatte nur einen Blick auf ihn geworfen – auf seine ungekämmten strohigen Haare, seine silbern umrandete Brille – und war in Tränen ausgebrochen und in ihr Zimmer gerannt. Er war hinter ihr die Treppe hochgestiegen und hatte an die Tür geklopft.
    »Gehen Sie«, rief Hannah. »Ich will mein Kindermädchen wiederhaben.«
    Hannah hörte ein schabendes Geräusch und dann einen Plumps. Mr Behr hatte sich vor ihrer Tür auf den Boden gesetzt.
    »Magst du Märchen?«, fragte er.
    Hannah hielt mitten in einem Schluchzer inne. »Was für Märchen?«
    »Ach, alle möglichen«, antwortete Thomas Behr. »Von Prinzessinnen, Ungeheuern, Trollen, Hexen und Schlössern.« Er schwieg.
    »Und weiter?«, fragte Hannah schniefend. Sie hörte Mr Behr leise lachen.
    »Also«, sagte er, »mein Lieblingsmärchen handelt von einem Mädchen, das von allen nur
Scatterheart
genannt wurde. Denn es war sehr schön, aber eigensüchtig und eitel. Und sein Herz war unstet und flatterhaft wie der Wind …«
    Hannah starrte durch die dicke Glasscheibe. Sie versuchte wieder einmal sich an das Ende des Märchens zu erinnern, aber ihr Kopf war vollkommen leer. Vielleicht gab es überhaupt kein glückliches Ende. Der Butler betrat leise das Zimmer und legte einen Holzscheit nach. Hannah drehte sich zu ihm um und sah ihn an. Er war ungefähr vierzig Jahre alt, hatte schütteres Haar und hinkte leicht. »Wie heißen Sie?«, fragte Hannah.
    Der Butler blickte auf den Boden. »Pete, Madam. Pete Levine.«
    »Angenehm, Pete«, sagte Hannah. »Ich heiße Hannah.«
    »Ja, Madam?«, entgegnete Pete.
    »Was haben Sie getan?«, fragte Hannah weiter. »Ich meine, weil Sie hier sind.«
    Pete fühlte sich offensichtlich unbehaglich. »Bitte, verzeihen Sie, Madam, aber Leutnant Belforte hat uns verboten mit Ihnen zu sprechen.«
    Hannah errötete.
    Pete zog sich ohne ein weiteres Wort zurück. Hannah starrte aus dem Fenster. Die einzige Farbe zwischen dem grauen Himmel und der braunen Erde war der blaugraueStreifen des Gebirges im Westen. Sie fragte sich, was jenseits der Berge sein mochte, und erinnerte sich dunkel daran, dass James etwas von einer Expedition und einer neuen Straße gesagt hatte.
    Sie schloss die Augen. Als Mr Behr ihr bei dieser ersten Begegnung das Märchen von Scatterheart zu Ende erzählt hatte, öffnete sie die Tür und trat in den Flur hinaus. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet und sie musste immer noch die Nase hochziehen. Aber sie war von der Geschichte mit Scatterheart und dem weißen Bären ganz erfüllt. Zaghaft nahm sie Mr Behrs Hand und er ging mit ihr ins Wohnzimmer hinunter und dann unterhielten sie sich über Geschichte, Erdkunde und Märchen.
    Seine Hand war so groß, dass ihre darin vollständig verschwand. Und sie war weich, weich wie Samt. Seine Augen funkelten, wenn er ihr von Sternen, Entdeckungen und Abenteuern erzählte. Seine Begeisterung war ansteckend. Hannah saß mit offenem Mund in ihrem Sessel, hatte die Hände ineinandergefaltet und lauschte gespannt den Geschichten über ferne Länder und verzauberte Schlösser. Als die Standuhr in der Diele zwölf schlug, stand er auf, um zu gehen. Hannah konnte die nächste Unterrichtsstunde kaum erwarten. Ihr Kindermädchen hatte sie schon ganz vergessen.
    Hannah hörte das Knirschen von Schritten und sah wieder zum Fenster hinaus. Dort draußen ging ein Eingeborener in Richtung Parramatta, er schlurfte gemächlich überdie staubige Straße. Hannah hielt den Atem an. Von den Frauen in der Fabrik hatte sie schreckliche Geschichten über die Eingeborenen gehört. Sie waren Kannibalen, gewalttätig und unberechenbar. Sie lockten die Kinder mit Singen und Tanzen aus der Stadt und dann …
    Hannah erschauderte. Der Mann hob ruckartig den Kopf und blickte in ihre Richtung. Sie konnte genau das Weiß seiner Augen sehen. Hannah schreckte zurück und verkroch sich in ihren Sessel.
    »Wilde«, hatte James sie genannt. »Halte dich von ihnen fern, es sind Tiere.«
    Bei seinen Worten hatte Hannah an Meg und Molly denken müssen. Sie fragte sich, wo Molly jetzt wohl war, und hoffte, dass sie ein gutes Zuhause gefunden hatte, wo sie geliebt und wo gut für sie gesorgt wurde.
    Auf dem Weg von der Fabrik nach Parramatta hatte Hannah James gefragt, ob Molly bei ihnen leben dürfe.
    »Die Missgeburt?«, hatte James mit angewidertem Gesicht geblafft. »Auf keinen Fall.«
    Der Eingeborene ging weiter und Hannah entspannte sich wieder. Sie fühlte sich plötzlich sehr müde und stieg die Treppe

Weitere Kostenlose Bücher