Scatterheart
hinauf. Obwohl es erst mitten am Vormittag war, verkroch sie sich in ihr Bett. Der Tag war ihr schon jetzt viel zu lang geworden.
Sie griff unter ihr Kissen – ein Daunenkissen, das James extra für sie in Sydney gekauft hatte – und zog einen Stofffetzen hervor.
Vorsichtig faltete sie Thomas’ Taschentuch auseinander und betrachtete das zerbrochene Glas und die verbogenen Brillenbügel. Sie wartete darauf, dass der Kummer sie übermannen, dass sie weinen und schluchzen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Seufzend kuschelte sie sich in ihr Bett.
Sie schlief unruhig und träumte, sie würde bei James’ Rückkehr wieder aufwachen.
»Ich habe dir ein Brautgeschenk mitgebracht«, sagte er und ließ ein dickes in Papier eingeschlagenes Paket auf den Esstisch fallen.
Hannah öffnete es. Es enthielt ein dickes weißes Eisbärenfell. Der ausgestopfte leblose Kopf des Bären starrte sie aus traurigen Glasaugen an.
Hannah schreckte hoch und schaute sich verwirrt im Zimmer um. Wie lange hatte sie geschlafen? Eine Minute? Eine Stunde?
Die Haustür fiel ins Schloss.
»Hannah!« James war zurück.
Er rief wieder ihren Namen und Hannah schlüpfte seufzend aus dem Bett.
James stand unten an der Treppe und wartete auf sie. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung, als sie ihn erblickte. Er sah wirklich blendend aus. Hätte sie doch nur die glücklichen, unschuldigen Tage auf der
Derby Ram
wieder herzaubern können, als sie ihn für einen wahren Gentleman gehalten hatte, ihren schönen Prinzen. Hättesie das immer noch glauben können, wie glücklich wäre sie jetzt gewesen.
»Ich muss einen Abstecher nach Sydney machen«, rief er.
»Ich dachte, du könntest mich vielleicht begleiten.«
Er schwieg und wartete offensichtlich auf ein Zeichen der Dankbarkeit, die dieser Vorschlag seiner Meinung nach verdiente. Hannah nickte nur und ging in ihr Zimmer zurück.
Am nächsten Morgen mieteten sie ein kleines Boot, mit dem sie flussabwärts nach Sydney fuhren.
Hannah genoss es, wieder auf dem Wasser zu sein, das vertraute Schaukeln des Boots zu spüren und das sanfte Schlagen der kleinen Wellen am Rumpf zu hören. Als sie das zu James sagte, sah er sie missbilligend an.
»Ich habe angenommen, dir läge daran, diesen Abschnitt deines Lebens zu vergessen«, meinte er.
Hannah dachte darüber nach. Sicher, sie hatte auf der
Derby Ram
Schlimmes erlebt. Aber sie erinnerte sich auch daran, wie ihr die Sonne ins Gesicht schien und der Wind ihr durch die Haare wehte. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit Long Meg gescherzt hatte und wie süß das Wasser schmeckte, als sie in Kapstadt haltgemacht hatten.
»Und du?«, fragte sie. »Willst du nicht nach London zurück? Im White’s Club Pikett spielen und Brandy trinken?«
James zuckte die Achseln. »Mir gefällt es hier«, sagte er. »Mir gefällt die Vorstellung, die Wildnis zu zähmen. Sie zu kultivieren.«
Hannah sah auf den Fluss, auf die gekrümmten graugrünen Bäume und das undurchdringliche Gewirr des Unterholzes. Sie glaubte nicht, dass dies je gezähmt werden könnte.
Im Lauf der Fahrt ließ Hannahs Anspannung nach. Der Rhythmus des Wassers hatte etwas Beruhigendes und die Sonne machte sie schläfrig. Sie war gerade im Begriff wegzudösen, da hörte sie das Rascheln von Blättern. Sie zuckte erschrocken zusammen, denn plötzlich tauchte eine Eingeborene am Ufer auf.
Die Frau hatte eine mahagonibraune Haut. Sie trug nur eine Art Gürtel um die Hüfte, an dem mehrere Tierfelle hingen. Ihre Brüste waren nackt und hingen ihr fast bis zum Bauch hinab.
Hannah starrte sie fasziniert an und dachte an Long Meg, die grau und kalt und nackt auf dem Operationstisch von Dr. Ullathorne gelegen hatte. Diese Frau sah so
lebendig
aus. Die Sonne glänzte auf ihrer dunklen Haut und den krausen schwarzen Haaren. Sie bewegte sich mit einer fließenden Anmut, als sei sie aus Wasser gemacht. Beinahe desinteressiert blickte sie zu James, Hannah und dem Sträfling hinüber, der das Boot lenkte. Ein unbestimmter Zug von Verachtung huschte über ihr Gesicht. Dann raschelte es wieder in den Blättern und ein kleinerJunge trat hinter ihr aus dem Gebüsch. Er war vollständig nackt. Die Frau sagte etwas zu ihm und der Junge lachte fröhlich. Seine weißen Zähne blitzten. Hannah dachte an Molly, wie sie über Long Meg oder eine der Geschichten von Mr Bär gelacht hatte.
James drehte sich zu dem Geräusch um und bemerkte die Eingeborenen. Schnell streckte er die Hand aus und hielt Hannah die
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