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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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an der
Zärtlichkeit hängen: Johnny Lees schmutziger Daumen
strich zweimal darüber hin, dann spannte sich die ganze
Hand, dann kam wieder der Daumen. Immer wieder. Immer wieder.
    »Die haben was zu essen«, sagte Johnny Lee.
»Riech mal.«
    Mallie tat es, aber es war nicht wie ein richtiger Geruch, es
war eher so, als ob ihm jemand von einem Geruch erzählte. Er
hörte auf einmal die Stimme seines Vaters, der Köter
stinkt wie ‘n Haufen Scheiße mit dem Mistvieh stimmt
was nicht bring ihn raus und erschieß ihn. Er sagte:
»Wissen die, daß wir hier sind?«
    »Klar wissen die das. Indianer wissen sowas
immer.« Er spuckte zur Seite, und sein Ton änderte
sich. »Mit denen werd ich schon fertig.«
    »Fertig?«
    »Ja.«
    »Warum? Wir kommen doch aus St. Louis.« Das klang
so vernünftig in Mallies Ohren, daß er es wiederholte.
»Wir kommen doch aus St. Louis.«
    Johnny Lee wandte den Kopf und sah Mallie an. Bei der ersten
Berührung des Blicks dieser flachen, hellen Augen in dem
geschwärzten Gesicht wußte Mallie, daß Johnny
Lee ihn haßte. Sofort wurde er von Kummer
überwältigt – nicht von Überraschung,
sondern von einem so tiefen Kummer, daß Mallie darin zu
ertrinken glaubte. Johnny Lee haßte ihn, er hatte keine
Ahnung, warum, und es war auch egal, warum. Es zählte nur,
daß er es tat. Johnny Lee – Johnny Lee! –
haßte ihn.
    »Du bist ein jämmerlicher Feigling, Mallie,
weißt du das?«
    Der losgelöste Kopf antwortete für ihn.
»Ja.«
    »Also, ich bin keiner! Hörst du? Ich bin
keiner!« rief Johnny Lee sehr laut. Die Indianer am Feuer
verschwanden. Mallie konnte nicht genau erkennen, wohin. Was
wußte er schon über Indianer? Er kam aus St. Louis. Er
versuchte, das ein drittes Mal zu wiederholen, aber der
losgelöste Kopf wollte nicht reden, und Johnny Lee konnte es
sowieso nicht hören, weil er so herumbrüllte.
    »Ich bin kein Feigling und kein dummes kleines Kind!
Wahrscheinlich sterbe ich morgen, genau wie du, wir sind dem
Marshai heute schon nur ganz knapp entkommen, er ist uns dicht
auf den Fersen – aber ich bin kein Feigling wie du! Ich
bin, ich bin…«
    Unglaublicherweise sah es so aus, als ob Johnny Lee gleich in
Tränen ausbrechen würde. Mallies Hand tastete nach der
von Johnny Lee, die an der Satteltasche lag. Johnny Lee
stieß sie weg und schlug Mallie auf den Mund. Blut spritzte
über seine Zunge. Johnny Lee machte ein schreckliches
Geräusch tief in der Kehle und hob seine Waffe.
    Wie sich herausstellte, waren die Indianer doch nicht
verschwunden, denn da waren sie ja, ein schwacher alter Krieger
fiel zur Seite, während ein anderer ein Gewehr an die
Schulter hob. Und dann gab Johnny Lee wieder diesen kehligen Laut
von sich und feuerte weiter, schoß unter den Weiden hervor
und feuerte weiter, stürmte feuernd den Hang hinunter.
Mallie stolperte schreiend hinter ihm drein. Als er bei dem Lager
ankam, lagen die alten Männer und die beiden Frauen tot da,
und Johnny Lee ließ die leeren Kammern der beiden Pistolen
immer wieder in einem kleinen metallischen Lied klicken.
    Eine Squaw war nicht tot. Sie lag zu Mallies Füßen,
Blut quoll aus einem Loch in ihrem Hals, und ihr Blick lag auf
Mallies Gesicht. Es kam ihm hoch, und er begann zu weinen. Bevor
er sich dessen bewußt wurde, hatte er seine Pistole gezogen
und auf ihre Brust gefeuert. Sie bäumte sich auf, zuckte und
lag still, und Mallie stolperte davon und schluckte die Kotze
runter.
    Das Baby weinte. Johnny Lee hob es auf und zertrümmerte
ihm mit dem Kolben seiner leeren Pistole den Schädel.
    Mallie stand schwankend da und sah ungläubig zu. Das
konnte Johnny Lee nicht tun. Unmöglich. Deshalb tat er es
auch nicht. Der losgelöste Kopf wußte das ganz genau,
er wußte, daß nichts von all dem geschah, weil es
nicht sein konnte, also wußte Mallie es auch, und er hob
seine Pistole und jagte Johnny Lee zwei Kugeln ins Herz.
    Danach kam eine Phase der Dunkelheit. Dann eine voller Licht,
blendend hell. Es war Mittag, und er saß auf Johnny Lees
Pferd und ritt in die Berge der Wind River Range, und er hatte
noch nie in seinem Leben etwas so deutlich gesehen. Alles war so
scharf, daß es wie lauter einzelne, glänzende Nadeln
in sein Gehirn stieß: die schwere Last der Satteltaschen
hinter seinen Knien, der Geruch der Pinien und der Sonne, der
silberne Faden des Bachs, der zu dem Hang, dem Sims, den
Felsbrocken, dem Durchgang und der Höhle führte, alles
war

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