Schädelrose
dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit,
sterben hat seine Zeit…<« Zum Teufel, dachte Caroline. Was wußte dieser sanfte, harmlose Pastor
schon von Zeit, Geburt und Tod und deren jetziger Bedeutung, in
dieser Zeit des Eufelns, der Karnies und der Seuche? Die Zeit
selbst hatte sich verändert, war über die zweitausend
Jahre alten Worte der Tröstung hinaus mutiert, die
wahrscheinlich von allem Anfang an schon kein großer Trost
gewesen waren. War es ein Trost, zu wissen, daß man
irgendwann sterben mußte? War es ein Trost, zu wissen,
daß man nicht sterben würde? War es ein Trost, zu
wissen, daß man sowohl sterben als auch aus dem
Übergedächtnis wiedergeboren werden, sich jedoch an
beides nicht erinnern würde?
Sie hätte diesen Gottesdienst überhaupt nicht
erlauben sollen. Aber Charles hatte es gewollt, ein Charles, der
mit solch schmerzhafter Demut darum bat – Charles, dieser Vulkan in Menschengestalt, der schon beim geringsten
Anlaß ausbrach –, daß sie eingewilligt hatte.
Aber sie konnte nicht hier sitzenbleiben, sie konnte es nicht,
mit ihren leblosen Erinnerungen an Catherine, mit Charles, der
gebeugt in der Bank vor ihr saß, mit Colin, der irgendwo
hinter ihr zweifellos perfekt geformte Schauspielertränen
vergoß, und mit diesem einfältigen, rudimentären
Sprachrohr eines Begriffs von Zeit, der so tot war wie Catherine.
Sie konnte keinen Augenblick länger hier sitzenbleiben, denn
wenn sie es tat, würde sie loskreischen oder schreien oder
sich die Haare raufen…
… eine plötzliche Erinnerung an Frauen in einem
Kreis, darunter sie selbst, die an einem graugrünen
Fluß über einem jungen, gebräunten Krieger
klagten, der mit Blumen bedeckt war.
»>Suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine
Zeit…<«
Caroline tastete nach ihrer Handtasche. Unter den
Papiertüchern, dem Taschenterminal und den Schminksachen
schloß sich ihre Hand um die blau glasierte
Porzellanschachtel, die sie von Shahid geschenkt bekommen hatte.
Sie zog sie auf ihren Schoß und hielt sie mit geschlossenen
Augen fest, und ihr Daumen kreiste über die glatte
Oberfläche. Linyi. Tsemo. Der Klang der Flöte und der
Hof, der von Licht, Frieden und dem Lachen ihrer Kinder
erfüllt war…
Die Erinnerungen wollten nicht kommen.
Carolines Augen öffneten sich ruckartig. Sie konnte sich
nicht an dieses perfekte, ruhige Leben erinnern, sie konnte sich
nicht erinnern – oder vielmehr, sie konnte es, aber die
Erinnerungen waren distanziert, kalt, aus zweiter Hand. Sie
konnte es nicht fühlen. Sie versuchte es noch einmal.
Ihre Hand schloß sich so fest um das Porzellan, daß
der Deckel von der Schachtel rutschte und klappernd zu Boden
fiel. Charles drehte sich auf seiner Bank halb um und dann wieder
zurück. Seine Wangen waren naß.
Fort. Die Erinnerungen an ihr einziges perfektes Leben, an die
einzige Zeit voller heiterer, friedlicher Ruhe. Fort. Wie die an
Catherine, an ihr Baby. Linyi, die Flöte, der Hof…
All das hatte jemand anders erlebt, vor langer Zeit, in einem
anderen Land. Und sie waren alle tot.
»>Es fährt alles an einen Ort. Es ist alles aus
Staub geworden und wird wieder zu Staub…<«
Fort.
»O Scheiße. Scheiße, Scheiße,
Scheiße«, sagte Caroline leise, aber nicht leise
genug. Charles’ Schultern versteiften sich erst schockiert
und dann wütend.
Caroline steckte die Porzellanschachtel wieder in ihre
Handtasche. Den Deckel ließ sie auf dem Boden liegen. Vor
ihr verschwamm der häßliche Altar mit dem
verschlossenen, rosenroten Gefäß, und in dem Film der
Tränen zerflossen die Ränder des roten
Gefäßes und dehnten sich aus, weich wie Staub, bis sie
schließlich bis zum Rand ihres Sichtfelds reichten und es
vollständig verschleierten.
Auf dem Trottoir draußen vor der Kapelle war Colin als
erster bei ihr. Er nahm ihre beiden Hände in seine.
»Callie. Callie…«
Caroline blickte durch ihn hindurch. Die Sonne schien auf den
geschrubbten Steinweg, und spätsommerliche Ringelblumen und
Chrysanthemen säumten die Wohneinheiten des Heims. Ein paar
Ahornbäume hatten ihre Farbe auf der sonnenzugewandten Seite
zu wechseln begonnen.
»Nichts ist so schlimm wie der Verlust eines
Kindes«, sagte Colin mit sonorer Stimme.
»Woher willst du das wissen?«
Er ließ ihre Hände nicht los. »Wer
könnte es besser wissen?«
Caroline wich zurück. Alles fort. »Was soll
das heißen? Daß du mich verloren hast? Ja,
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