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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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verzweifelten Laut von sich, den er
nicht verstand. Aber ihre Stimme blieb langsam und deutlich.
»Du hast gesagt, du bist in Schwierigkeiten. Was kann ich
tun?«
    »Nichts. Ich bin nicht in Schwierigkeiten.« Hatte
er das wirklich gesagt? Warum?
    »Robbie – wie hast du mich gefunden?«
    »Ich habe im Institut angerufen und gesagt, ich
wäre dein Bruder. Sie haben mir erzählt, daß du
zu Catherines Beerdigung abgereist bist. Also habe ich das Heim
angerufen.«
    »Aber – sie hätten dir den Namen des Heims
nicht genannt. Selbst wenn du gesagt hast, du bist mein Bruder.
Keiner dort weiß überhaupt, wie das Heim heißt,
außer Patrick Shahid. Und Joe. Hast du mit Joe
geredet?«
    »Nein. Ich… nein.« Er merkte, wie er wieder
in Konfusion geriet.
    »Woher hast du dann gewußt, wo du mich erreichen
kannst? Robbie?«
    Die Konfusion kam näher, von Lichtblitzen durchsetzt.
»Paß auf dich auf, Caroline«, sagte Robbie
hastig. »Das mit Catherine tut mir wirklich
leid.«
    »Nein, leg nicht auf! Robbie? Robbie!«
    Er beendete das Gespräch mit einem Tastendruck und zwang
die Konfusion und das Licht mit seiner Willenskraft, zu
verschwinden. Sie taten es. Er war okay.
    Er war okay, und völlig erschöpft.
    Er kroch ins Bett und zog sich die Decken bis zum Kinn. Er gab
sich Mühe, nicht nachzudenken, über gar nichts. Aber
kurz bevor er einschlief, kam ihm mit Macht ein Bild: die Frau
mit den schwarzen Zöpfen im Büro des Motels. Er sah
deutlich ihr Gesicht und erkannte zum erstenmal, daß sie
wenigstens zum Teil Indianerin sein mußte; erkannte, was
wichtiger war, daß sie wirklich gut aussah und – am
allerwichtigsten – daß er es nicht einmal bemerkt
hatte.

 
13.
CAROLINE
     
    Caroline saß während des kurzen
Trauergottesdienstes für Catherine reglos und mit trockenen
Augen da. Die Kapelle von Meadows Home hatte nichts von der Anmut
der Kapelle im Institut. Neutrale, mit Pinienholz verkleidete
Wände, elektrisches Licht, gesichtslose Kirchenbänke.
Catherines Asche ruhte in einem rosenroten Metallgefäß
auf dem Altar – Caroline vermutete jedenfalls, daß es
ein Altar war; in seinem Streben nach Ökumenismus hätte
es auch ein Eßtisch sein können. Catherines Vater
saß mit gesenktem Kopf in der Bank vor ihr. Caroline
versuchte sich zu erinnern, wie ihre Tochter als Baby, als
Kleinkind ausgesehen hatte; es gelang ihr nicht.
    Die einzigen Gedanken, die kommen wollten, betrafen die
unmittelbare Gegenwart. Diese Bank ist hart. Die Haare an
Charles’ Hinterkopf werden immer dünner. Der Ton des
Kaplans ist noch behutsamer als der von Shahid. Der Geruch von
Regen liegt in der Luft. Es war so etwas wie ein emotionales
Korsakow-Syndrom, dachte sie müde: Alle Reaktionen wurden in
diesem Moment und für diesen Moment erfunden, die reale
Vergangenheit war ausgelöscht.
    »>Der da reich ist, rühme sich seiner
Niedrigkeit, denn wie eine Blume des Grases wird er
vergehen<«, las der Kaplan. »>Die Sonne geht
auf mit der Hitze, und das Gras verwelkt, und seine Blume
fällt ab, und seine schöne Gestalt
verdirbt…<« Eine Frau, die Caroline nicht kannte,
begann lautlos zu weinen. Sie mußte eine Schwester sein,
eine Hilfsschwester, jemand, der sich um Catherine gekümmert
hatte. Es war jedoch nicht Catherine, die sie zum Weinen brachte,
dachte Caroline; es war die Schönheit der Sprache von
König Jakobus, die herzzerreißende Würde der
Worte. Die Frau, wer immer sie sein mochte, war offenbar nicht
mit genug Worten, genug Sonne, genug Blumen aufgewachsen, die
abends um acht – und bei zwei Matinees pro Woche – zu
ihrer schönsten Gestalt erblühten. Shakespeare.
Anouilh. Vaessen. Die Frau hatte keine Schutzimpfung bekommen.
Sie war nicht immun.
    Er kam mitten beim Gottesdienst herein. Caroline wußte
es sofort; sie hörte es an dem >Das ist wer
Berühmtes, aber schau jetzt nicht hin<-Gemurmel. In
diesem Moment kam ihr eine Erinnerung: sie selbst mit
fünfzehn, vor Lachen halb erstickend, und Colins Stimme mit
ihrem singenden Tonfall: »Warum glotzen sie denn
nicht einfach, verdammt noch mal. Gott bewahre uns vor dem
verstohlenen Getue der guten Kinderstube.«
    Aber sie konnte sich nicht an Catherine erinnern. So sehr sie
sich auch bemühte, während sie dort steinern in ihrer
einsamen Kirchenbank saß, es wollten sich einfach keine
lebendigen Erinnerungen an ihre tote Tochter einstellen.
    »>Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben
unter

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