Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
Vom Netzwerk:
Fälle vor Gericht
vertreten. Jedenfalls wird er’s versuchen.«
    »Würde das bei meiner Klientel irgendwas
ändern?«
    Pirelli lachte. Ein alter Scherz – Joes Karriere als
Bürgerrechtsanwalt, der Seuchenopfer gegen eine Regierung
vertrat, die sich der Verantwortung für ihre Unterbringung
entziehen wollte, gegen Pirellis Senkrechtstarter-Karriere als
Wahrscheinlichkeitsdatenscanner. »Ich bestelle, du
zahlst.« Solche Sachen. Dumme Scherze, alte Scherze. Gute
Scherze.
    Nachdem Pirelli aufgelegt hatte, saß Joe reglos da und
fragte sich, was er fühlte. Warum er nicht mehr fühlte.
Es war das Ausmaß der Sache, entschied er; es war schwer zu
erfassen. Die Seuche hatte es immer schon gegeben, eine so
unveränderliche Gegebenheit der Natur wie Sex.Beide waren zur gleichen Zeit in sein
Bewußtsein gedrungen, kurz vor seinem zwölften
Geburtstag, und auf eine perverse Weise waren sie in seinem Kopf
für immer miteinander verbunden: die Zeitungsschlagzeilen
– CDC [ii] RÄUMT
EIN, DASS ERINNERUNGSSEUCHE SCHLIMMER SEI KÖNNTE ALS AIDS
– und die schnellen, heftigen Regungen in seinem Unterleib
jeden Tag, jede Nacht. In jenem Jahr war überall ein
populärer Song zu hören gewesen, >Lotus Machine<,
und auch der war in seinem Kopf eine unentwirrbare Verbindung mit
den Schlagzeilen und der schmerzhaften, köstlichen
Schwellung zwischen seinen Beinen eingegangen, so daß noch
Jahre später jede Melodie, die auch nur geringe
Ähnlichkeit mit ihm hatte – da da da DA da –,
verworrene Erinnerungen an panische Erwachsenengespräche,
kinogerechte Unruhen im Fernsehen, das Abschließen der
Badezimmertür hinter sich und den süßen Geruch
von Robin Nguyens Haar heraufbeschwören konnte. Daß
diese Seuche im Gegensatz zu jener in der Generation seiner
Eltern nichts mit Sex zu tun hatte, machte keinen Unterschied.
Für Joe war es so. Und für all jene, die um die
Jahrhundertwende herum volljährig geworden waren, hatte die
Erinnerungsseuche – Memory Formation and Retrieval
Disorder, Störung bei der Bildung und beim Abfragen von
Erinnerungen – mit der gleichen selektiven Unentrinnbarkeit
über den Schulfesten, den Hologrammkonzerten und den
Datennetzkriegen gehangen wie Regen; manchmal passierte es,
manchmal nicht.
    Vielleicht würde es nie wieder passieren.
    Die Ärzte hatten von Anfang an gewußt, daß es
ein Slow Virus sein mußte. Es brauchte Jahre, um sich zu
entwickeln; die Inkubationszeit war genauso lang wie bei AIDS
damals. Anfangs sahen die Symptome nach der Alzheimer-Krankheit
aus: Verwirrung, Gedächtnisverlust. Dann ähnelten sie
ein wenig der Agoraphobie. Der Patient wollte nicht mehr aus dem
Haus gehen und hatte keine Lust, irgendwelche neuen
Aktivitäten anzufangen. Joe konnte sich an die Stimme seiner
Mutter erinnern, schrill vor unausgesprochener Angst:
»Warum gehst du nicht raus und spielst Baseball? Willst du nicht raus?« All die Mütter, all die
Angst.
    Wenn die Symptome damit fertig waren, zwanzig weiteren
Krankheiten zu ähneln, hatte sich das Slow Virus im Gehirn
ausgebreitet und jede Fähigkeit zur Bildung neuer
Erinnerungen zerstört. Der Seuchenpatient lebte in einer
begrenzten Vergangenheit, die manchmal einen ganzen Tag
umfaßte, manchmal auch nur eine einzelne, ständig
wiederholte Handlung. Das Bett machen. Ein Bad nehmen. Einen
Brief schreiben. Immer und immer wieder,
unaufhörlich…
    Und jetzt hatte es das Forscherteam geschafft. Das Slow Virus
war identifiziert und isoliert. Vielleicht würde bald auch
der Übertragungsmechanismus erkannt sein. Und vielleicht war
dann auch bald Schluß mit Mißtrauen und Haß und
damit, daß Menschen mit der Krankheit gemieden, ihre
Verwandten belästigt und Gruppenheime wie jenes an diesem
Morgen Ziel von Sprengstoffanschlägen wurden – Joe
konnte es gar nicht fassen. Während er auf der Bettkante
saß und beobachtete, wie sein Fuß wieder einmal zu
zittern begann, fragte er sich, ob er daran glaubte, daß
man jemals wirklich das Heilmittel finden würde, und schalt
sich für seine Ungläubigkeit. Was, zum Teufel, wollte
er in einer Kommission der Präsidentin, er, Joe McLaren aus
der Innenstadt von Pittsburgh, wenn er nicht glaubte, daß
die Kommission das, wozu sie gebildet worden war, auch erreichen
konnte?
    Er glaubte es. Sie hatten den ersten Schritt getan. Sie hatten
es – mit Pirellis Worten – in Dreiteufelsnamen getan.
Es würde nur Zeit brauchen, bis man sich

Weitere Kostenlose Bücher