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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Lotosblüten malte, hieß
Wang. Das Programm nahm alles auf, saugte ihn aus, fragte
nach mehr, saugte ihn von neuem aus. Und über allem lag wie
eine Trance die seltsame Betäubung der Dualität: die
Erinnerungen eines anderen in seinem Gehirn – jemand mit
fremdartigen Wahrnehmungen und Reaktionen, jemand, der den Boden
zu Füßen des Kaisers küßte, der Konkubinen
wie Haustiere kaufte und Arbeiter enthaupten ließ, die
Keramikwaren ruinierten. Jemand, der trotzdem immer noch er
selbst war. Ich/nicht ich. »Die Vergangenheit ist ein
fremdes Land; dort macht man Dinge anders.« Als er
aufschaute, dämmerte bereits der Morgen.
    Der Mond war fort. Wolken verdeckten den Sonnenaufgang.
Benommen drückte Joe auf den ENDE-Code. Das Programm hatte
einen inneren Override. Es schaltete sich wieder ein und sagte zu
ihm: »DANKE, JOSEPH.
    IHRE HILFE WAR VON UNSCHÄTZBAREM WERT. ICH WEISS, SIE
MÜSSEN MÜDE SEIN, ABER BEVOR SIE ABSCHALTEN: WOLLEN SIE
WISSEN, OB JEMAND ANDERS, DER SICH IM NETZ ANGEMELDET HAT, ZUR
SELBEN ZEIT UND AM SELBEN ORT GELEBT HAT WIE SIE IN DIESER
ERINNERUNG?«
    Er wollte nicht. Er wollte nichts mit all dem zu tun haben,
nie wieder. Er hatte sich bewiesen, daß er mit dem Netz
zurechtkam und daß ihm das Netz nichts zu bieten hatte. Es
war eine Flucht: persönlicher als Holovideos,
intellektueller als Brainies, niveauvoller als Mystik. Aber im
Grunde nichts anderes. Er brauchte es nicht.
    Joe stand auf und streckte sich. Seine Muskeln waren
verkrampft vom langen Sitzen. Er fühlte sich trocken und
ausgedörrt. Die exzessive Interaktion mit dem Computer hatte
sein Gehirn ebenso ausgepumpt wie die exzessive Masturbation
zuvor seine Hoden. Kein Saft mehr.
    Während er sich streckte, die Arme über dem Kopf und
den Rücken durchgebogen, sprach das Programm. »SIE
HABEN NICHT NEIN GESAGT, JOSEPH. MANCHMAL SCHEUT MAN DAVOR
ZURÜCK, DIE BITTE TATSÄCHLICH ZU ÄUSSERN.
ZUFÄLLIG KANN MAN IHNEN GRATULIEREN. JEMAND ANDERS, DER IM
DATENNETZ ZUR ERSCHLIESSUNG FRÜHERER LEBEN ANGEMELDET IST,
HAT IN DER ZEIT UND AM ORT IHRER ERINNERUNG GELEBT. OB SIE
KONTAKT MIT IHM AUFNEHMEN, IST GANZ ALLEIN IHRE ANGELEGENHEIT.
ICH HOFFE, ICH HABE DAS VERGNÜGEN, BALD WIEDER MIT IHNEN ZU
ARBEITEN.«
    Worte erschienen auf dem Schirm, Buchstabe für Buchstabe,
begleitet von gedämpfter, feierlicher Musik. Wieder mal
billige Effekthascherei. Joe verzog das Gesicht.
    LANG-LI, 1664-1690 A.D. GEBOREN UND GESTORBEN IN CHING-TE
CHEN, CHINA, WO ER AUCH SEIN GANZES LEBEN VERBRACHTE. ARBEITER IN
DER KAISERLICHEN PORZELLANMANUFAKTUR.
    Joe ließ langsam die Arme sinken. Lang Li war der
Arbeiter, an den er sich kurz vor dem Massaker an den Gaisten
erinnert hatte, als er mit Caroline im Porzellanladen gewesen
war. Der Arbeiter, den Joe als Ts’ang Ying-Hsuan hatte
enthaupten lassen, weil er eine Ladung Drachenschüsseln
überhitzt hatte. Für dessen Tod er verantwortlich
war.
    Die Musik schwoll in der Lautstärke an. Darunter erschien
Lang Lis Name in diesem Leben, samt Geburtsdatum, letzter
bekannter Adresse, Telefonnummer und Mailnet-Code: ROBERT ANTHONY
BREKKE.

 
6.
CAROLINE
     
    Caroline ließ sich auf die Hacken zurücksinken, die
Hände bis zu den Handgelenken mit weichem Schlamm bedeckt,
und musterte Bill Prokop. Der Journalist – oder
Ex-Journalist, es war schwer zu sagen, was er war, er hatte sich
seit seiner Operation so verändert – saß nicht
weit entfernt auf einem Gartenstuhl. Er hatte den Stuhl den
ganzen Weg vom Institutsgebäude bis zu dem Blumenbeet
geschleppt, das Caroline am Rand des Wäldchens an der
Ostgrenze des Grundstücks anlegte. Prokop saß auf
seinem Stuhl, dachte sie, als ob dieser aus besonders hartem
Beton bestünde. Seine Hose, sein Hemd und sein Stirnband,
alle aus billigem Synthetik in einem unvorteilhaften Ziegelrot,
sahen zerknittert aus. Er roch ein bißchen ungewaschen. Er
sah angespannt und unglücklich aus, aber nicht
verrückt.
    »Ich erinnere mich nicht, was für Leben ich im
letzten Jahrhundert hatte«, sagte Caroline.
»Anscheinend kann ich mich nur an viel frühere
erinnern. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
    »An keins? Wann sind Sie geboren? In diesem
Leben?«
    »1988. Ich bin vierunddreißig.«
    Er nickte zerstreut. »Aber Sie waren da, Caroline. Ich
weiß es. Als ich Armand Kyle war, hatten Sie irgendwas
damit zu tun.«
    Sie wies ihn nicht darauf hin, daß er das nicht
>wissen< konnte: Sie hatte für die letzten zwei

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