Schädelrose
Jahrhunderte nichts ins Datennetz eingegeben, und selbst Prokops
eigene Eingaben waren von der statistischen Nutzung der Daten
ausgeschlossen worden. Das hatte ihr Shahid erzählt.
Unrichtige Daten; fehlerhafte Daten. Phantasieerinnerungen an ein
Leben, das es nie gegeben hatte.
Eine Art Seuche in umgekehrter Form.
»Hören Sie, Bill, ich bin im Moment ziemlich
beschäftigt…«
Er beugte sich auf seinem Gartenstuhl zu ihr herunter, ganz
sture Eindringlichkeit. »Wenn ich Ihnen nur ein paar Bilder
zeigen könnte, würde Ihnen das vielleicht helfen, sich
zu erinnern!«
Sie gab auf. Was immer Prokop sein mochte, er war harmlos. Das
wußte sie. Nach Jeremy, nach der Nacht, in der er eine
Rolle verloren und in ihrer New Yorker Wohnung zu toben
angefangen hatte, wußte sie so etwas immer. »Na
gut.« Sie trocknete sich die Hände an einem Handtuch
ab, warf einen bedauernden Blick auf die Ringelblumen und nahm
den Stapel von Fotos, den er ihr hinhielt.
Zu ihrer Überraschung waren es zweidimensionale,
verstärkte Hologramme, sehr teuer und sehr professionell.
Prokop konnte sie nicht selbst gemacht haben; Caroline erinnerte
sich, daß er ihr erzählt hatte, er sei kein guter
Fotograf. Auf dem ersten Bild stand >Armand Kyle<. Das Foto
zeigte einen dünnen Mann in den Fünfzigern oder
Sechzigern mit schütterem Haar. Er strahlte Schärfe
aus; spitze Schlüsselbeine, die von dem altmodischen,
offenen T-Shirt entblößt wurden, ein schicker
Spitzbart, scharfe Augen wie Nadeln. Caroline wußte genau,
wie er dastehen, sich bewegen und reden würde. Er war ein
Mann, der sich nur so lange auf ein Gespräch mit Fremden
einließ, bis er die Glut seiner eigenen intellektuellen
Überlegenheit spürte. Ein hervorragender
Wissenschaftler, aber ein Langweiler im sozialen Bereich.
Sie sah Prokop an und schüttelte den Kopf.
»Löst keine Erinnerung aus.«
»Versuchen Sie’s mit dem nächsten.«
Das war interessanter. >Paul Winter<, Kyles junger
Geliebter, wirkte nicht älter als zweiundzwanzig oder
dreiundzwanzig. Dunkle, wellige Haare, schöne Augen. Er sah
außerordentlich gut aus, aber das war nicht anders zu
erwarten gewesen. Unerwartet war sein schräger Blick in die
Kamera; beinahe verärgert, als ob sich nicht gern
fotografieren ließe. In Anbetracht des aufgeheizten
schwulenfeindlichen Klimas jener Zeit war das vielleicht auch so.
Caroline hatte jedoch den Eindruck, daß die Ungeduld in dem
jungen Gesicht mit der ausgeprägten Kinnpartie etwas anderem
entsprang, einer unschuldigen Arroganz, die so unangefochten war,
daß sie sich nicht in Plastik und Licht reflektiert zu
sehen brauchte.
»Und?« sagte Prokop erwartungsvoll. »Sie
sehen es sich so lange an – irgendwas?«
»Er war kein Schauspieler.«
»Nein. Woher wissen Sie das?«
Sein Eifer deprimierte sie. »Ich erkenne ihn nicht,
Bill. Keine Erinnerungen.«
»Sehen Sie sich das letzte an.«
Sie steckte auch das zweite Bild nach hinten, gab einen
plötzlichen Laut von sich und ließ die Bilder fallen.
Es war die Mordszene. Kyle lag enthauptet in einer Blutlache; das
Labor um ihn herum war ein Trümmerfeld, TOD DEN SCHWULEN war
auf eine weißgetünchte Wand hinter dem
verstümmelten Körper gekritzelt. Caroline funkelte
Prokop wütend an.
»Tut mir leid«, sagte Prokop erstaunlich
zerknirscht. Er bückte sich, um seine Hologramme aufzuheben.
»Ich dachte bloß, wenn Sie es ohne Warnung
sähen, würde das vielleicht…«
»Hat’s aber nicht«, sagte Caroline kalt.
»Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Ich dachte nur…«
»Tut mir leid. Und jetzt würde ich gern mit meinem
Beet weitermachen.«
Prokop ging, den Gartenstuhl unter einen Arm geklemmt, seine
Fotos in der anderen Hand. Er war doch verrückt
– daß er dieser verstümmelte Leichnam sein
wollte… Caroline wandte sich wieder ihren Ringelblumen zu.
Sie grub mit ihrer Schaufel ein Loch in den Boden und steckte
eine Pflanze hinein. Eine schattenhafte, ungebetene Erinnerung
kam ihr: sie pflanzte irgendwo Reis, wo es warm war, kratzte mit
einem spitzen Stock im Boden…
»Du lieber Gott, was machen Sie denn da?«
Robbie. »Wie sieht’s denn aus? Ich pflanze
Ringelblumen.« Sie mußte lachen; er sah richtig
entsetzt aus.
»Sie? Wozu?«
»Weil ich Lust dazu habe.«
»Wieso? Und weiß das Institut, daß Sie seine
Blumenbeete verschandeln?«
»Ich verschandele sie nicht. Zufällig bin ich eine
hervorragende Gärtnerin. Ich hab mal einen
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