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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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dir zu verdienen. Du
wirst dein ganzes stinkfaules Leben lang jämmerlich arm
sein, aber nicht mit meinem Schnaps. Nun, er war derjenige,
der zuletzt lachte, nicht der alte Scheißer. Mallie
jammerte nicht; seit er Johnny Lee getroffen hatte, war er nicht
mehr faul; und in fünfzehn Minuten würde er nicht mehr
arm sein. Nie mehr.
    Das Cape war so weit hochgerutscht, daß Mallie die
lederne Brieftasche der Frau durch ihre Tafttasche fühlen
konnte. Er stellte überrascht fest, daß es die
Brieftasche eines Mannes war, ein Ding, das Johnny Lee als
Pittman bezeichnete. Sie paßte genau in die Tasche. Mallie
krümmte erst den einen, dann den zweiten Finger und begann,
sie herauszufischen. Er hatte das Leder gerade weit genug
gerefft, um sie durchs Futter seines Jacketts in seine eigene
Tasche heraufzuziehen, als alles auf einmal passierte:
    Die Straßenbahn bremste.
    Er fühlte etwas Hartes und Klobiges in der
Brieftasche.
    Sein Magen knurrte – mächtig und laut, ein
hungriges Knurren, so feucht und eruptiv, daß in der ganzen
Straßenbahn die Köpfe herumflogen.
    Einer davon war derjenige der Blonden. Sie drehte sich um und
warf einen giftigen Blick direkt auf den anstößigen
Magen; ihre ungerichtete Griesgrämigkeit hatte für den
Moment ein klar definiertes Ziel gefunden. Ihr Blick fiel auf den
zu einer gefältelten Wölbung hochgezogenen Saum ihres
Capes, der nur teilweise zurückfiel und sich glättete,
als Mallie seine Finger wegnahm.
    Sie krallte sofort eine Hand über ihre Tasche. »Ein
Dieb!« kreischte sie. »Ein Dieb! Haltet ihn!«
Sie ging mit beiden Händen auf Mallie los, aber der hatte
sich schon in Bewegung gesetzt und drängte sich mit den
Schultern durch die Körper, die die Straßenbahn
füllten. Ein paar Männer im hinteren Teil waren bereits
auf die Plattform hinausgetreten, so daß das Gedränge
ein wenig nachließ. Mallie schob sich wie wild zu ihnen
durch.
    »Ein Dieb! Haltet ihn! Haltet ihn!«
    Hände griffen nach Mallie, aber allesamt nur zaghaft.
Köpfe wurden verwirrt herumgerissen. Jemand rief etwas
Entschlossenes, aber nicht einmal dieser Entschlossenheit gelang
es, das Sturmkreischen der Blonden und die Kakophonie der Fragen
zu übertönen. Nur der Fahrer schien zu wissen, was zu
tun war: Die Straßenbahn beschleunigte plötzlich,
damit der Dieb nicht absprang, bevor man ihn erwischte.
    Mallie platzte auf die hintere Plattform hinaus und sah die
Haltestelle vorbeischießen; die nach oben gewandten,
überraschten Gesichter der wartenden Fahrgäste sahen
wie ein Haufen gefrorener weißer Klumpen aus.
    Ein Mann auf der Plattform sprang Mallie an, der ihn
kräftig in den Unterleib trat. Der Mann schrie auf und fiel
gegen zwei andere, die unter ihm auf den Stufen standen; alle
drei stürzten vom Wagen. Mallie ging in die Knie,
konzentrierte sich und sprang.
    Er prallte auf dem Boden auf, rollte ein Stück und
landete auf nacktem Erdboden, der erst kürzlich von Regen
aufgeweicht worden war. Schlamm spritzte an seine geschlossenen
Lider. Dann war er auf den Beinen und rannte von den Gleisen und
dem Damm fort, auf die Lagerhäuser zu, die den Mississippi
säumten, während hinter ihm die Bremsen der
Straßenbahn kreischten und die Luft sich mit Geschrei
füllte.
    Er flitzte um die Ecke eines Lagerhauses herum und gelangte
auf einen großen, belebten Platz. Verzweifelt suchte er
nach einer Möglichkeit, sich irgendwo zu verstecken, wo
seine schlammdurchtränkte Kleidung keine Aufmerksamkeit
erregen würde. Neger, die Kisten auf den Schultern
schleppten, sahen ihn mit düsteren Mienen an. Buggies mit
Einkäufern darin fuhren vorbei. Mallie wich ihnen aus, so
gut es ging, bis eine halboffene Kutsche mit riesigen roten
Rädern durch eine tiefe Pfütze mitten auf dem Platz
fuhr, ihn knapp verfehlte und eine Wasserfontäne so hoch
aufschießen ließ, daß sein Kopf und seine
Schultern mit Dreck bespritzt wurden.
    Irgendwo in Mallies Kopf sagte eine Stimme: Halt still!
Jetzt! Nutz es aus!
    Der Fahrer der Kutsche zügelte seine Pferde und beugte
sich um den breiten Schmutzfänger herum. Er war ein
großer Mann mit einer knallroten Nase. Mallie glaubte, ganz
kurz ein weißes Rüschenhemd mit einer Diamantnadel
aufblitzen zu sehen. »Oh, tut mir leid!«
    Englisch. Ein englischer Akzent. Mallie zwang sich, nur einen
Schritt auf die Kutsche zuzutreten, wobei er mit der Hand an dem
Schlamm an seinem Jackett rieb und große Augen machte.

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