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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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gewesen war, den Robbie je gekannt hatte, soweit er sich
erinnern konnte. In jedem Leben. Johnny Lee, der Pläne
schmiedete, lachte, herumhurte und sich von San Francisco nach
St. Louis und zurück nach Wyoming durchschlug, wo…
wo…
    Es war alles in Ordnung.
    Der Kopf tat ihm wieder weh. Er konnte sich nicht an alles
erinnern. Die Erinnerung ging nur bis hierher, dann war abrupt
Schluß, als ob sein Hirn gegen eine steinerne Wand geknallt
wäre. Aber er erinnerte sich an alles, worauf es ankam, an
alles, was er in Wyoming brauchen würde, und an genug von
Johnny Lee, um ihn beinahe auf dem Sitzplatz nebenan schimmern zu
sehen, als das Flugzeug senkrecht in die Luft stieg. Johnny Lee
war eins achtzig groß, obwohl er erst siebzehn war, mit
schwarzem, lockigem Haar und strahlend blauen Augen. Seine
eigenen Augen – seine, die von Mallie Callahan –
waren ebenfalls blau, aber er hatte schlichtes braunes Haar und
einen Körper wie ein Faß, und es war einfach nicht
dasselbe. So sahen es die Frauen, und so sah es Mallie auch.
Niemand war so wie Johnny Lee.
    Robbie sah Johnny Lee ganz deutlich vor sich. Und sich selbst
auch, Mallie Callahan, fünfzehn Jahre alt, ein
Ausreißer, der in einer Straßenbahn in St. Louis
stand und die Finger unten durch sein Sakko in die Handtasche
einer sitzenden blonden Lady mit einer Nase wie ein Beil und
kleinen, gemeinen, reichen Augen gesteckt hatte.
     
    Das weite Sakko aus karierter Wolle reichte knapp über
Mallies Hüftknochen. Er hatte es vor einer halben Stunde mit
Geld gekauft, das Johnny Lee mysteriöserweise auf den Tisch
gelegt hatte, und hatte dabei das Gekicher des Ladenmädchens
– was gab’s denn da zu kichern? – und das
Knurren in seinem Magen ertragen. Er hatte einen Teil des
mysteriösen Geldes für Essen ausgeben wollen, aber
Johnny Lee hatte nur gelacht und gesagt, sie würden noch
genug zu essen bekommen, wenn sie erstmal im Zug
säßen, das Wichtige sei, zuerst den Job zu erledigen.
Also hatte Mallie das karierte Sakko angezogen, war in die
vollbesetzte Straßenbahn eingestiegen und hatte sich bis zu
seinem Stehplatz neben der kleinäugigen Blonden in dem teuer
aussehenden grünen Taftkleid und dem kurzen schwarzen Cape
durchgedrängelt.
    Als es in der Straßenbahn noch voller wurde, rückte
Mallie näher an die Frau heran. Er streckte die linke Hand
nach oben und hielt sich an der Lederschlaufe fest, die von der
Decke herabhing. Die rechte Hand steckte er in die Tasche seines
Jacketts.
    Die Blonde schaute argwöhnisch zu ihm hoch. Mallie zog
sein Taschentuch – weißes Linnen, genauso neu wie das
Sakko – aus der Tasche und putzte sich lautstark die Nase.
Sie schürzte die Lippen und schaute abrupt weg. Mallie
schneuzte sich noch ein paarmal, dachte an den Radau, den ihre
spitze Nase machen mußte, wenn sie sich schneuzte, und gab
sich alle Mühe, nicht zu lachen.
    Als die Straßenbahn sich dem Fluß näherte,
stiegen noch mehr Leute zu. Mallie wurde von allen Seiten
geschubst, bis er mit dem Kinn direkt über dem straff
verknoteten Haar und dem winzigen schwarzen Basthut der Frau
stand. Der Rand seines Sakkos hing über das kurze Cape der
Blonden.
    Mallie steckte sein Taschentuch wieder in die rechte Tasche.
Seine Hand fand den Schlitz, den Johnny Lee in das Futter hinter
der Tasche geschnitten hatte. Seine Finger glitten zwischen das
Futter und die karierte Wolle. Bei einem so billigen Sakko waren
beide unten nicht zusammengenäht. Behutsam schob Mallie zwei
Fingerspitzen unten aus dem Jackett heraus und begann den unteren
Rand des kurzen schwarzen Capes der Blonden hochzuziehen.
    Zentimeter für Zentimeter schob sich der schwarze Stoff
nach oben. Die Frau hatte das Gesicht von den dicht an dicht
stehenden Körpern in der Mitte des Wagens abgewandt, und
ihre Nase war pingelig gerümpft. Stadtfrauen taten das
immer, dachte Mallie verächtlich. Es machte das Ganze fast
schon zu einfach. Johnny Lee sah es aber nicht so. »Sei
froh, daß du nur Frauen beklaust, das ‘s
leicht«, hatte er gesagt, als sie sich kennenlernten, und
hatte Mallie lachend die Flasche gereicht, die er zu Hause nie
gekriegt hatte, nie, nicht mal, wenn dieser alte, stinkende
Geizkragen von seinem Vater sie seinen Brüdern gegeben
hatte. Für die Arbeit aufm Hof bist du nicht kräftig
genug und für die Jagd hast du nicht genug
Durchhaltevermögen, und ich seh nicht, daß du heute
schon was getan hättest, um’s

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