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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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emotionale Reaktionen, um in Panik zu
geraten, wenn ihr gesamter Tagesablauf – jeder Dialogsatz,
jede kleine Handlung, jede Reaktion eines Erwachsenen –
nicht genau das Muster duplizierte, das nun in ihren Gehirnen als
einzige Realität verankert war. Die Panik konnte
überwältigend sein – wie bei einem Erwachsenen,
der plötzlich feststellte, daß sich wahnsinnige Fremde
in seinem Wohnzimmer drängten und in einer
furchteinflößenden Sprache brabbelten. Die
Realität selbst fiel aus. Die einzige Alternative war das
Chaos: die Ungeheuer und das Geschrei, allein in der unwirklichen
Dunkelheit.
    Caroline kehrte mit ausdruckslosem Gesicht zu ihrem
Fensterbrett zurück. Long moserte immer noch herum. Er
drehte sich halb um, und Joe sah in seinem Profil flüchtig
Catherines langes, vorspringendes Kinn. Joe schlüpfte aus
dem Zimmer.
    Die gestreßte Empfangsdame erklärte ihm, daß
die von dem Sprengstoffanschlag betroffenen Patienten mit dem
Korsakow-Syndrom provisorisch im Clarement Cottage untergebracht
waren. Auf halbem Wege dorthin wurde er zu seiner
Überraschung von Caroline eingeholt.
    »Sie hat angefangen, mir den Brief zu schreiben«,
sagte sie mit gepreßter, trockener Stimme. »Und
Charles hat sich wie üblich lächerlich gemacht. Es gibt
keinen Grund, noch länger zu bleiben. Es geht ihr jetzt
gut.« Sie lachte abrupt. Joe griff nach ihrer Hand.
    »Wären Sie wohl so nett, mit dem Wagen noch einen
Moment auf mich zu warten?« fragte er. »Ich
möchte mir bloß diese Forschungen mit
Korsakow-Patienten ansehen, die die Frau von der Verwaltung
erwähnt hat.«
    »Weshalb?«
    »Hat was mit einem meiner Fälle zu tun«,
sagte Joe ausweichend. Er wollte ihr nichts von dem Stapel nahezu
unlesbarer Forschungsergebnisse erzählen, den Pirelli ihm
geschickt hatte; die Korsakow-Forschung hatte bei der Isolierung
des Seuchenvirus eine Schlüsselrolle gespielt. Die
Wahrscheinlichkeitsscanner hatten eine komplizierte
seitenverkehrte Kongruenz in den mathematischen
Gehirnwellenmodellen für Seuchenopfer und Korsakow-Patienten
gefunden. Aber er fand, daß Caroline zu labil aussah, um
das auch nur in groben Zügen – soweit es nicht geheim
war – mit ihr zu erörtern.
    »Ich komme mit.«
    Joe wünschte, sie würde es nicht tun, aber ihm fiel
keine Möglichkeit ein, ihr den Wunsch abzuschlagen. Er sah,
daß sie sich ablenken wollte und daß ihr fast jede
Ablenkung recht war. Ihre Absätze klapperten angespannt
neben ihm auf dem Steinpfad. Als er merkte, daß er immer
noch ihre Hand hielt, beließ er es dabei und rieb mit dem
Daumen über schlanke Finger, die sich so glatt und steif
anfühlten wie das polierte Geländer im Treppenhaus.
    »Sagen Sie mir, was das Korsakow-Syndrom ist«, bat
Caroline. »Ich kenne es nicht mal.«
    »Es ist eine Hirnfunktionsstörung. Die Patienten
vergessen große Teile ihrer Vergangenheit. Aber sie
behalten ihren Verstand, ihren Einfallsreichtum und ihre
Vorstellungskraft, und häufig erfinden sie wie
verrückt.«
    »Was erfinden sie?«
    »Neue Identitäten«, sagte Joe, und in ihren
rasch nach unten gezogenen Mundwinkeln sah er das Echo ihres
vorherigen Streits. Ärgerlich sagte er: »Nein, nicht
so. Nicht bewußt, mit kohärenten Entscheidungen und
Werten, sondern willkürlich, um die verlorenen
Identitäten zu ersetzen, die sie früher einmal
besaßen. Sie…«
    Sie schnitt ihm das Wort ab. »Hier rein?«
    »Ja.«
    Caroline ließ seine Hand los und ging mit forschen
Schritten zur Rezeption voran. Dann mußte sie beiseite
treten, während Joe seine Papiere vorlegte und den Grund
für seine Anwesenheit erklärte. »Nun«,
sagte die Empfangsdame, »wenn Sie wirklich mit einem
Patienten sprechen wollen statt mit einem Arzt…«
    Joe lächelte. »Ist das so seltsam?«
    Die Frau starrte ihn ausdruckslos an. »Mister Holiworth
ist im Garten. Durch die Tür da.«
    Der Garten war ein hübscher Hof, der auf allen Seiten von
einer Mauer umgeben und mit Steinbänken ausgestattet war.
Ein kleiner, fleischiger Mann mit einem breiten Lächeln
sprang von einer Bank auf und lief mit ausgestreckten Händen
auf Caroline zu.
    »Laura! Wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht mehr
gesehen!« Er ergriff Carolines Hände. »Jedesmal,
wenn ich dich sehe, bist du wieder hübscher
geworden!«
    »Tut mir leid, ich bin nicht Laura…«
    Holiworth ließ sofort ihre Hände los.
»Natürlich nicht – entschuldigen Sie! Aber
wissen Sie, Missis

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