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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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war, und sich so
ausführlich an etwas erinnern konnte, was vor zwei Leben
geschehen war, aber jetzt war es nicht komisch.
    Doch, war es. Belustigung war eine genauso angemessene
Reaktion wie jede andere, oder etwa nicht? Zum Beispiel besser
als ehrfürchtiges Staunen über eine Mutterschaft, die
sie vor fünfzig Jahren verlegt und nun auf einmal
wiedergefunden hatte?
    Also das war komisch.
    »Nun mach schon, Patrick«, sagte sie laut zum
Fenster hinaus, »wach auf. Lach mit mir.«
    Sie sah Robbie vor sich, wie er am vergangenen Nachmittag mit
den halbmondförmigen Ohrringen in der Hand an ihrer Tür
gestanden hatte. Wo war er hingegangen? Sie würde es
erfahren, wenn er zurückkam, nahm sie an. Sie würden
diese ganze absurde Sache besprechen, würden darüber
reden und vielleicht Geburtsanzeigen verschicken. »Caroline
Bohentin freut sich, die verspätete Ankunft eines Sohnes von
sechsundzwanzig Jahren bekanntzugeben, der voll ausgewachsen
ihrem Computer entsprang…«
    Aber die Unbeschwertheit, die sie erfüllte, war keine
Hysterie.
    Das Telefon klingelte. Sie brauchte einen Moment, um zu
erkennen, worum es sich bei dem Geräusch handelte, so
unerwartet waren die musikalischen Töne. Sie griff begierig
danach. »Hallo? Hallo?«
    »Caroline? Patrick Shahid.«
    Sie starrte blöde auf den Hörer. Sie hatte ohne
Grund erwartet, daß es Robbie wäre.
    »Caroline? Sind Sie da?«
    »Ja. Ja, ich… Sie haben mich
erschreckt.«
    »Sie haben nicht geschlafen.«
    Es war keine Frage. »Woher wußten Sie das?«
fragte Caroline.
    »Ich muß Sie sprechen, bitte«, sagte er in
seinem förmlichen, ruhigen Englisch, als ob das eine Antwort
wäre. »Geht es Ihnen gut?«
    »Ja. Woher wußten Sie, daß ich
nicht…«
    »In der Kapelle, in fünf Minuten?« sagte
Shahid, und ihr wurde klar, daß sie zum erstenmal
hörte, wie er jemanden unterbrach. »Sind Sie schon
angezogen?«
    »Ja. Fünf Minuten sind okay. Ja.«
     
    Die Kapelle war in die Ostseite des Instituts eingebaut, mit
abstrakt gemusterten Buntglasfenstern, die nach Norden und
Süden gingen, und einem völlig leeren, tristen
schwarzen Steinaltar an der Südwand. Die Wände waren
weißgetüncht. Im Licht der frühen Dämmerung
schimmerten sie perlgrau, wie das Innere mancher Seemuscheln.
Caroline setzte sich auf eine Eichenbank und sah zu, wie Farbe in
das Buntglas sickerte, bis Shahid in Jeans und einem
gräßlich bunten Pakistanihemd neben sie glitt. Sie
lächelte über sein Hemd; er überraschte sie immer
wieder. Erst als er ihre Hand in seine beiden Hände nahm,
erkannte sie, daß seine Haut wie Eis war. Wie
merkwürdig, dachte sie. Meine muß warm
sein.
    »Geht es Ihnen gut, Caroline?«
    »Ja. Nein. Was meinen Sie, Patrick?«
    Er musterte sie eingehend. »Ich meine, nach dem
Sprengstoffanschlag gestern.«
    Sie hatte es vergessen. Sie hatte es vergessen!
    »Caroline…«
    »Ich hab’s vergessen«, sagte sie langsam.
»Ich habe doch tatsächlich den Sprengstoffanschlag auf
Catherines Heim vergessen…«
    »Nicht einmal Schmerz kann man ständig im
Gedächtnis behalten.«
    »Anscheinend nicht.« Sie hörte sich lachen,
ein schreckliches Geräusch. Dann fiel ihr etwas anderes auf,
und sie drehte sich in der Kirchenbank zur Seite, um ihn genauer
anzusehen. Die Haut unter seinen Augen hing schlaff herunter; sie
war dunkel und dick. »Aber das ist nicht der Grund, weshalb
Sie mich gefragt haben, ob es mir gut geht,
stimmt’s?« sagte sie. »In Wahrheit nicht,
obwohl Sie mich das glauben machen wollen. Woher wußten
Sie, daß ich nicht geschlafen habe, Patrick?«
    Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Die
Karnie-dBase wird überwacht, nicht wahr?«
    »Normalerweise nicht. Aber sie hat Anweisung, mich unter
bestimmten Umständen zu wecken.«
    »Unter welchen bestimmten Umständen?«
    »Wenn etwas Wichtiges passiert.«
    »Und was ist heute früh Wichtiges
passiert?«
    Seine Stimme war leise wie immer; die Höflichkeit war wie
Kettfäden in die Worte verwoben. Aber Caroline sah den
Augenblick, klar wie ein Glockenton, als er sich entschloß,
ehrlich zu sein. »Sie haben erfahren, daß Robbie
Brekke in einem anderen Leben Ihr Sohn war.«
    »Und warum ist das so wichtig?« Auf einmal fiel
ihr wieder ein, was Joe zu ihr gesagt hatte: Von den
Milliarden Menschen, die auf der Erde leben oder gelebt
haben…
    »Bevor ich darauf antworte, würden Sie mir bitte
eine Frage beantworten?«
    »Und welche?« sagte Caroline,

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