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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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weiten, bunten Hemdsärmels. Er schien es nicht zu
bemerken.
    »Es ist wichtig«, wiederholte Joe.
    »Ja«, sagte Shahid. »Natürlich.«
Er rührte sich nicht. Die dunklen Augen in seinem grauen
Gesicht waren riesengroß.
    »Liegt jemand im Sterben?« fragte Caroline.
    »Nein«, sagte Joe.
    »Wenn das so ist – hat es fünf Minuten Zeit?
Wir sind hier auch gerade mitten in einer wichtigen
Sache.«
    »Gewiß«, sagte Joe steif, wobei er
unbewußt Shahid nachahmte. Er schloß die
Tür.
    »Wir haben fünf Minuten«, sagte Caroline.
»Sagen Sie mir, weshalb Ihr Terminal Sie geweckt hat, weil
ich eine Karnie-Verbindung mit Robbie gefunden habe. Sagen Sie
mir, weshalb das Datum von Timmys Tod so wichtig ist. Sagen Sie
mir, was hier vorgeht.«
    Shahid blieb so lange stumm, daß sie spürte, wie
Ärger in ihr aufzukeimen begann. Er hatte kein Recht…
aber als er antwortete, waren seine Worte so leise vor Furcht, so
offenkundig nicht an sie, sondern an einen privaten,
unergründlichen Teil von ihm selbst gerichtet, daß ihr
Ärger verrauchte.
    »Ich glaube, was da vorgeht, könnte vielleicht Gott
sein.«
    »Gott?«
    »Oder etwas, was ich als Gott bezeichnen könnte.
Möglicherweise.«
    Er senkte abrupt den Kopf. Caroline hatte plötzlich den
Eindruck, einen Schmerz zu sehen, von dessen Existenz in ihm sie
nichts gewußt hatte; vielleicht hatte sie nicht einmal
gewußt, daß es ihn überhaupt noch irgendwo auf
der Welt gab. Unter dem glatten braunen Gesicht war er eine
sengende Flamme, und an einem verborgenen Ort wand er sich in
diesem Schmerz. Sie hielt immer noch seinen Hemdsärmel
umklammert. Ihre Finger schlossen sich fester um den groben
Stoff. Ohne den Kopf zu heben, rückte er von ihr ab, tiefer
in die Kirchenbank hinein.
    Als er schließlich zu ihr aufblickte, war der Schmerz
verschwunden. Caroline sah, daß ihr nie wieder erlaubt
werden würde, ihn zu sehen. Nur ein unerwarteter Schock
hatte diesen blanken, gequälten Kern einen Moment lang
bloßgelegt.
    Shahids Hände lagen ruhig auf der Lehne einer
Kirchenbank. »Gewiß, Caroline, Ihre Fragen verdienen
eine Antwort. Das Terminal alarmiert mich immer, wenn jemand
– nicht nur Sie – eine Querverbindung mit Robbie
Brekke eingibt.«
    »Warum?«
    »Weil es zu oft vorgekommen ist.«
    »Wie oft?«
    »Einhundertdreiundvierzig Mal.«
    Caroline hielt den Atem an. »Aber so viele Erinnerungen
hat Robbie doch gar nicht eingegeben!«
    »Auch nicht annähernd so viele. Er hat
tatsächlich nur vier eingegeben. Jedesmal wenn er eine neue
eingibt, verzeichnet das Terminal einen Schwall von Verbindungen
damit. Und von diesen einhundertdreiundvierzig Verbindungen waren
hundertsechzehn enge Blutsverwandtschaften.«
    Caroline war schwindlig. »Wie viele andere enge
Blutsverwandtschaften sind in der dBase gefunden worden? Die
nichts mit Robbie zu tun hatten?«
    »Eine.«
    »Eine?«
    »Eine Frau in Hongkong und ein sechzehn Jahre alter
Junge in Brasilien fanden heraus, daß sie vor tausend
Jahren in dem Gebiet, das jetzt die Ukraine ist, einmal Cousin
und Cousine ersten Grades waren. Einmal.«
    »Aber warum… warum Timmy?«
    »Robbie«, verbesserte Shahid sanft. »Stellen
Sie sich eine Dunkelheit vor, Caroline. Lebendig, warm, aber von
der Außenwelt abgeschlossen. In der Dunkelheit wächst
ein Wesen heran. Sie können sich die Dunkelheit als
Mutterleib und das Wesen als Kind vorstellen, wenn Sie wollen,
obwohl das nicht ganz richtig ist. Aber stellen Sie es sich so
vor. Was ist nötig, damit dieses im Dunkeln heranwachsende
Kind ans Licht kommen kann?«
    »Es muß groß genug werden. Zu groß
für den Mutterleib.« Caroline sah Shahid besorgt an.
Sein Gesicht hatte noch nicht wieder Farbe bekommen. An den
Wänden der Kapelle stiegen rubinrote und kobaltblaue
Strahlen höher.
    »Ja, es muß groß genug werden. Aber das ist
noch nicht alles. Was ist, wenn es keinen Weg aus dem Mutterleib
heraus gibt – beispielsweise, wenn der Gebärmutterhals
so eng ist, daß das Kind nicht geboren werden
kann?«
    »Dann stirbt es.«
    »Ja. Und es findet nicht zu seinem eigenen, separaten
Leben. Also ist für die Geburt beides nötig –
ausreichende Größe und ein Weg nach draußen.
Beides.«
    Sie sagte so sanft, wie es nur irgend ging: »Sie
drücken sich nicht klar aus, Patrick.«
    »Ich drücke mich so klar aus wie möglich. Ich
habe gesagt, daß es hundertsechzehn Blutsverwandtschaften
zwischen Robbie Brekke und anderen

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