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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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ohne etwas zu
versprechen.
    »Wodurch haben Sie sich an dieses Leben mit diesem Sohn
erinnert? Was hat die Erinnerung ausgelöst?«
    »Wieso – es war Joe McLaren. Er ist gestern mit
mir zu Catherines Heim gefahren, und ich habe ihn gebeten, bei
mir zu bleiben, als wir zurückkamen. Ich wollte nicht allein
sein. Kurz nach drei heute früh bin ich aufgewacht. Joe hat
so geschnarcht. Er lag mit angezogenen Knien da und hat sein
Kissen umarmt, wie ein kleiner Junge. Und er hat geschnarcht. Und
dann hab ich mich ganz plötzlich erinnert, wie ich mit Timmy
im Bett lag, als er noch klein war, weil er schlimme
Ohrenschmerzen hatte. Er hat ständig geschrien, und ich
konnte erst am Morgen mit ihm zum Arzt gehen…«
… er lag mit angezogenen Knien da, während sie ihm
kreisförmig den Rücken rieb und ihm leise sinnlose
Lieder vorsang wie >Eine Spinne und noch eine, jetzt
sind’s zwei, und nun schon drei<, bis er einschlief und
sein Kissen umarmte und durch seine arme verstopfte Nase zu
schnarchen begann, ein leises, sanftes Geräusch, das in dem
winzigen Zimmer unaufhörlich weiterging, wie ein leises
Lied…
    »Und Timmy war wie alt?«
    »Sechs.« Caroline lächelte. »Was
für ein merkwürdiger Auslöser. Joe muß
immerhin, tja, wie alt sein…«
    »Zweiunddreißig«, sagte Shahid unerwartet
präzise.
    »Und Timothy Hendrickson war ein Kind. Mein Kind. Ich
war Janet Hendrickson, eine Hausfrau in Wichita, es war 1965, und
mein Timmy hatte Ohrenschmerzen.« Ihr kam der Gedanke,
daß auch Robbie sich an Timmy erinnert haben mußte,
um ihn ins Datennetz einzugeben. Sofort hätte sie
leidenschaftlich gern gewußt, was das für eine
Erinnerung gewesen war.
    »Warum sind Sie sofort zur dBase gegangen?« fragte
Shahid.
    »Ich konnte nicht schlafen. Kein anderer
Grund.«
    »Welche Erinnerungen haben Sie sonst noch aus Ihrem
Leben als Janet Hendrickson?«
    Caroline runzelte die Stirn. »Nicht allzu viele. Das ist
komisch, wenn man an Linyi denkt… ich erinnere mich nur an
ein paar Momentaufnahmen aus dem Teil von Janets Leben, der mit
Timmy verbunden war. Eine Geburtstagsparty. Ein Spiel der
Kinderliga, als er neun war. Dieser Lastwagen, den er hatte,
einen Löffelbagger, den er Mike Mulligan nannte, nach einem
Kinderbuch. Und sein Tod.«
    Shahid sagte scharf: »Sie erinnern sich an Timothy
Hendricksons Tod?«
    »Ja. Aber nicht im Bauch. Nicht wie bei den anderen
Erinnerungen. Diese Erinnerung ist gedämpft. Sie haben ja
auch gesagt, daß Todesfälle in anderen Leben
normalerweise…«
    »Ja, ja«, sagte Shahid ungeduldig, und sie starrte
ihn an. »Wann ist Timmy gestorben?«
    Draußen ging gerade die Sonne auf. Lange Farbfinger
schossen von den Buntglasfenstern über den Boden: rubinrot,
kobaltblau, ockergelb. Caroline hielt den Blick unverwandt auf
sie gerichtet und ließ Shahids kalte Hände los.
    »Er war… auf einer Spritztour. Mit ein paar
Freunden, im Wagen von einem seiner Freunde. Sie hatten was
getrunken. Manchmal war er mit einem wilden Haufen unterwegs,
wilder als er eigentlich war…«
    »Wann?«
    »Er war erst achtzehn. Es war am Abend seines
High-School-Examens, und er…«
    »Wann?«
    »Juni 1976.«
    Shahid lehnte sich in die Kirchenbank zurück. Sein
Gesicht war mit einemmal glatt und ausdruckslos. Die langen
Streifen farbigen Lichts begannen an der Wand gegenüber
hochzusteigen.
    »Warum ist das so wichtig, Patrick?« fragte
Caroline. »Sie müßten sich mal sehen. Wieso ist
das Datum von Timmys Tod von Bedeutung?«
    Shahid antwortete nicht. Bevor sie die Frage wiederholen
konnte, ging die Tür der Kapelle auf, und Joe McLaren kam
herein.
    Er blieb abrupt stehen, als er Caroline sah. Offenbar hatte er
erwartet, Shahid allein vorzufinden. Er trug die gleichen Sachen
wie letzte Nacht, nur daß sie jetzt noch zerknitterter
waren. Beim Anblick seines braunen Hemds fühlte Caroline
wieder den weichen Stoff an ihrer Wange, hörte Timmys leises
Schnarchen und empfand wieder die Aufwallung hilfloser Liebe zu
ihrem kleinen Sohn mit den schlimmen Ohrenschmerzen.
    Der Robbie Brekke war.
    »Hallo«, sagte Joe. »Tut mir leid, wenn ich
störe. Doktor Shahid, könnte ich Sie ein paar Minuten
allein sprechen? Es ist wichtig.«
    »Gewiß«, antwortete Shahid so mechanisch,
daß Caroline ihn ansah, ihn richtig ansah. Sein Gesicht war
nicht bloß ausdruckslos, es war grau, seltsam aschfahl. Was
hatte sie gesagt, daß er so aussah? Sie packte den Rand
eines

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