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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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dasitzenden, respektvollen Publikum
spielte, zu dem der sowjetische Premierminister und Königin
Diana gehörten, in der Tat ein großer Mann war,
tiefgründiger als andere Menschen und fähig, den Kummer
der Menschheit – ihren Kummer – wahrzunehmen
und zu würdigen. Mit fünfzehn wußte Caroline,
daß Colin nie Carlyle gelesen hatte, und auch sonst
niemanden, der keine Rolle für Colin Cadavy schrieb. »Scheinheilig«, stichelte sie, und wenn in der
Stichelei eine gewisse Schärfe lag, so nahm weder sie selbst
noch Colin diese bewußt wahr, wie sie nichts bewußt
wahrnahmen in dem Strudel, in den ihr gemeinsames Leben geraten
war, eine unaufhörliche Party mit Brainies und
Gelächter und dem dBasen der restlichen profanen Welt in
ihrer Privatsprache.
    Als die Party endete – in jener Nacht, als Caroline in
Colins Bett kroch –, änderte sich auch die Tafel. »Erbärmlich«, schrie sie ihn an. »Melodramatisch.« Sein Unglück
rührte nicht von einer irgendwie gearteten Größe,
sondern von Maßlosigkeit her; nichts war je genug für
ihn, nicht einmal sie. Es sei Selbstverherrlichung, hatte sie ihn
mit sechzehn angebrüllt, nichts >Unendliches<, was ihn
so gierig, so theatralisch, so substanzlos mache. Sie und
Jeremy Kline, den sie gerade kennengelernt hatte, würden nie
so sein. Sie würden glücklich sein. Sie
würden ein schlichtes, gutes Leben im wahren Theater
führen, fern von verstaubten, belanglosen Stücken, die
von toter Geschichte übriggeblieben seien, denn Jeremy sei
ein Genie und die Welt werde bald gezwungen sein, das zuzugeben.
Colin hatte gelacht, ein Lachen, das von solchem Schmerz
erfüllt war – melodramatischem Schmerz, hatte Caroline
geschrien –, daß sie die Tafel von der Wand gerissen
und auf dem harten italienischen Marmorboden einer Garderobe in
einer französischen Stadt zerschmettert hatte, an deren
Namen sie sich nicht erinnern konnte.
    Eigenartigerweise dachte Caroline jetzt an die Tafel.
    Was war hier das Endliche, was das Unendliche? Robbie Brekke
war ihr Sohn gewesen. War das eine abgeschlossene Tatsache, ein
totes Stück Vergangenheit? Oder war es ein Teil von einem
unendlichen Netz, eine Leine, die ihr über Raum und Zeit
hinweg zugeworfen worden war, die aus der Vergangenheit kam, aber
ebenso real war wie die Tatsache, daß sie jetzt Mutter
eines Kindes war, dessen Geist irgendwo in dessen eigener,
winziger Vergangenheit gestockt und ausgesetzt hatte? Was war
hier Schlauheit, und was war schlichtes Unglück?
    Oder Glück?
    Nachdem Joe hinausgegangen war, saß sie da und starrte
auf den Bildschirm des Terminals. TIMOTHY HENDRICKSON. ROBERT
ANTHONY BREKKE. Langsam und so unauffällig, daß sie es
erst merkte, als es passiert war, füllte sich ihre Brust mit
Licht. Mit einem Licht, das glühte; einem Licht, das die
Schwere von ihr nahm.
    Robbie war ein erwachsener Mann. Sechsundzwanzig Jahre alt.
Ein kleiner Schmuggler, ein unfähiger Gauner, ein charmanter
Luftikus. Sein Leben war in keiner Weise das ihre, und er
gehörte in keiner Weise zu ihr. Nicht hier. Nicht jetzt.
    Aber er war ihr Sohn gewesen.
    Etwas Unendliches. Etwas, das nicht vollständig unter dem
ganzen Mist begraben werden konnte.
    Sie duschte, wusch sich die Haare, schlüpfte in Jeans und
einen weichen blauen Pullover und band ein Angora-Stirnband um.
Sie wollte mit Patrick Shahid sprechen, aber selbst nachdem sie
sich mit ihren Haaren so viel Zeit gelassen hatte wie
möglich, war es zu früh: halb sechs Uhr morgens. Sie
konnte ihn schlecht vor halb sieben oder so wecken. Er las jeden
Morgen um acht eine Messe in der Interfaith-Kapelle für
alle, die dort erschienen – für gewöhnlich
niemand.
    Halb sieben. Um diese Zeit wachte Catherine auf. Tag für
Tag.
    Caroline öffnete die Vorhänge. Am östlichen
Ende des Ontariosees hatte der Himmel gerade die ersten silbernen
und rosafarbenen Streifen bekommen. Es roch nach frisch
gemähtem Gras und lebendigem Wasser. Sie zog sich einen
Stuhl ans Fenster, um dort zu warten.
    TIMOTHY HENDRICKSON. ROBERT ANTHONY BREKKE. Wie lange hatte
sie dagesessen und auf den Bildschirm gestarrt, nachdem Joe
gegangen war? Sie wußte es nicht mehr. Sie wußte auch
nicht mehr, was sie zu Joe gesagt hatte, oder wie er reagiert
hatte. Sie mußte etwas gesagt haben, er mußte etwas
gesagt haben… Vor zwei Monaten hätte es sie
amüsiert, daß sie etwas vollständig vergessen
konnte, was vor ein paar Stunden geschehen

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