Schaenderblut - Thriller
Mitgefühl, die sie bei einem Monstrum wie ihm nicht erwartet hätte.
»Ich vergebe dir ebenfalls«, flüsterte sie und stellte überrascht fest, dass sie es ernst meinte. Sie wusste, was das Stockholm-Syndrom war. Sie hatte von Opfern gehört, die anfingen, sich mit ihren Entführern zu identifizieren, sich sogar in sie verguckten. Ihr entging nicht, dass sie im Begriff stand, genau dasselbe zu tun, aber es kümmerte sie nicht. Sie war drauf und dran, sich in einen Kannibalen zu verlieben, einen Entführer und Mörder, und sie hatte sich noch nie so begehrt gefühlt wie in dieser Sekunde. Ob sein Blick nun Liebe, Lust oder einfach nur Hunger widerspiegelte, jedenfalls hatte sie noch nie zuvor jemand auf diese Weise angesehen und ihr signalisiert, dass er sie brauchte. Sie beugte sich vor und küsste ihn. Sie liebten sich im Laderaum des Lieferwagens neben dem qualvoll stöhnenden Frank.
»Ich werde versuchen, dagegen anzukämpfen, dir zuliebe«, hauchte Joe in Alicias Ohr, als er auf ihr lag, in ihr, und seine Erektion nach dem gemeinsamen Orgasmus langsam abschwoll. Er kroch nach vorne auf den Fahrersitz und fuhr los, ohne sie erneut zu knebeln, allerdings legte er ihr wieder die Handschellen an.
Sie unterhielten sich auf dem ganzen Weg nach Tacoma, als wären sie ein Liebespaar, das eine gemütliche Spritztour aufs Land unternahm.
»Glaubst du immer noch, dass du so etwas wie eine Krankheit hast, die sich heilen lässt, indem du diesen Mann tötest?«
»Da bin ich mir von Sekunde zu Sekunde sicherer.«
Er zeigte hinauf in den Nachthimmel auf das große leuchtende Gesicht des Vollmonds, der am Horizont schwebte.
»Seit dieser Mond aufgegangen ist, ist meine Gier fast unerträglich geworden, genau wie in den uralten Werwolflegenden. Ich spüre, dass sich in meinem Körper Veränderungen abspielen. Meine Eckzähne scheinen schärfer und länger geworden zu sein.«
Er bleckte im Rückspiegel die Zähne. Alicia betrachtete die Reflexion seines Gebisses und zuckte mit den Achseln.
»Du siehst es vielleicht nicht, aber ich fühle, wie sie wachsen.«
Er drehte sich zu ihr um und streckte die Zunge heraus. Ein kleiner Schnitt klaffte in der Mitte.
»Ich habe mir die Zunge an den eigenen Zähnen verletzt. Sie passen nicht mehr so gut in meine Mundhöhle wie letzte Nacht. Und sieh dir meine Kiefer an. Mir scheint, die Muskeln wachsen sekündlich. Ich fühle mich, als könnte ich mit meinem Gebiss Elefantenknochen zermalmen. Bald brauche ich nicht einmal mehr ein Messer. Ich werde einen Menschen allein mit meinen Zähnen in Stücke reißen können.«
»Du jagst mir schon wieder Angst ein, Joe.«
»Nichts hat sich zwischen uns verändert. Ich verspreche dir, dass ich dir nicht noch mal wehtun werde.«
»Aber was ist mit ihm? Wirst du ihn töten?«
»Ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen kann. Es ist eine lange Fahrt nach Washington und ich verspüre kein Verlangen nach gewöhnlicher Nahrung mehr. Ich kann sein Blut riechen. Es ist so nahrhaft. Ich wünschte, du würdest es so wahrnehmen wie ich. Den Geschmack. Den Geruch. Es ist, als könnte ich sein ganzes Wesen durch sein Fleisch erfassen. Den Kern seiner Existenz absorbieren. Freud und Leid, Glücksmomente und Sorgen. Alles vereint sich in diesem Geruch. Es treibt mich in den Wahnsinn. Ich habe das Gefühl, dass ich seine Gedanken riechen kann. So ging es mir schon bei dieser Bibliothekarin. Als würde ich sie in mich aufnehmen. Als würde sie ein Teil von mir. Alles, was sie ausmachte, verschmolz mit meinem Körper. Ich kann sie in mir spüren, in meinem Blutkreislauf. Deshalb weiß ich, dass mich die Tötung von Damon Trent heilen wird.«
»Warum? Das verstehe ich jetzt nicht.«
»Weil ich weiß, dass er mich ebenso in sich spürt. Weil ich ihn immer noch in mir spüren kann.«
Frank bewegte sich. Er kam wieder zu Bewusstsein.
»Frank zu verspeisen, ist anders«, meinte Joe und warf einen Blick nach hinten. Die Hälfte der Pobacken des Mannes war verschwunden, ebenso der größte Teil seiner Genitalien. Der Rest von ihm bestand hauptsächlich aus Haut, Knochen und harten Muskeln. Nichts von dem zarten Fleisch, nach dem Joe sich sehnte. Es war nicht mehr viel an ihm dran, was er essen konnte. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie wundervoll Alicia schmecken musste.
»Es wohnt keine Furcht in ihm. Oder vielmehr, seine Furcht ist anders, auf eine gewisse Weise sinnlich. Er genießt sie, kostet sie aus. Er kann den Prozess der Verschmelzung fühlen,
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