Schängels Schatten
Jetzt wollte er ihn wieder verstauen und stutzte.
»Was ist?«, fragte Anita, als der Kellner weg war.
Mike deutete auf die Münzen in seiner Hand. Zwischen den Eurostücken lag etwas, das nicht dazugehörte.
»Das ist ein Schlüssel«, stellte Anita fest.
»Und nicht irgendeiner. Das ist der Schlüssel zu Carolas Haus. Sie hat ihn mir gegeben, bevor ich zu dem kleinen Spaziergang aufbrach.«
»Spaziergang?«
»Ja. Wir waren an dem Abend essen. Als wir zurückkamen, war ich noch nicht müde. Ich sagte Carola, ich wolle noch ein bisschen um die Ecke gehen, und sie gab mir den Schlüssel, damit sie mir nachher nicht die Tür aufmachen musste. Als ich dann wiederkam, fand ich sie.« Mike schwieg einen Augenblick. »Ich hatte eigentlich gedacht, ich hätte den Schlüssel in der Aufregung stecken gelassen oder im Haus irgendwo hingelegt.«
»Den solltest du der Polizei geben«, sagte Anita. »Findest du nicht?«
Mike betrachtete das glänzende Metallstück auf dem Cafétisch. »Das wäre die eine Möglichkeit.«
»Und die andere?«
»Wenn es noch irgendwelche Hinweise darauf gibt, wo Carola das Versteck des Denkmals vermutete, dann doch sicher in ihren Unterlagen, oder?«
»Wahrscheinlich.«
»Also in ihrem Haus.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Wir sollten den Schlüssel benutzen, um ins Haus zu gehen und nachzuschauen.«
»Das kannst du nicht machen.«
»Wieso nicht? Carola hätte sicher nichts dagegen.«
»Sie nicht. Aber die Polizei. Das Haus ist ein Tatort. Die haben da garantiert Siegel angebracht. Und die Unterlagen, die sich in Carolas Arbeitszimmer befunden haben, dürften sie ebenfalls längst beschlagnahmt haben.«
Mike steckte den Schlüssel ein. »Egal. Wir sollten es versuchen. Vielleicht ist das Haus ja nicht mehr versiegelt. Vielleicht kann man darin noch einen Hinweis finden, den die Polizei übersehen hat.«
»Die sind sicher ziemlich gründlich, wenn es um einen Mordfall geht.«
»Du vergisst, dass sie vielleicht nichts darüber wissen, was Carola gesucht hat. Es kann doch sein, dass sich irgendwas in dem Haus befindet, das für die Polizei völlig nebensächlich ist, uns aber auf die richtige Spur führt.«
»Zum Beispiel?«
»Ein Foto oder so was.« Ein ausgeschnittener Zeitungsartikel, dachte er.
Anita verzog den Mund. »Ganz schön raffiniert. Aber damit will ich nichts zu tun haben. Wir machen uns strafbar.«
»Nur ein Versuch. Nachdem wir im Mittelrhein-Museum gewesen sind.«
Sie sah ihn eine Weile an.
»Also gut. Aber wir schauen uns erst mal an, was es legal zu sehen gibt.«
Das Mittelrhein-Museum unter dem Augenroller am Florinsmarkt war gähnend leer. Wahrscheinlich interessierten sich die Touristen für die alten Gemälde und Plastiken nur, wenn das Wetter schlecht war. Dabei boten die Räume in dem historischen Gebäude angenehme Kühle. Sie sollten das draußen dranschreiben, dachte Mike. Dann würden vielleicht mehr Besucher kommen.
Anita nahm die Sonnenbrille ab, als sie die Kasse passierten. Mike bezahlte für sie beide. An der Theke saß eine Frau, bei der sich Mike nach Ausstellungsstücken über den Kaiser erkundigte. Sie erfuhren, dass es zwei Dinge zu besichtigen gab: zum einen ein Modell des Denkmals gleich hier im Erdgeschoss, zum anderen den berühmten Kopf, der in einem Nebenraum ausgestellt war.
Dann standen sie vor dem Modell: Es war aus dunklem Metall und so klein, dass es auf einen Esstisch gepasst hätte. Anders als beim Original, das man nur mit dem Kopf im Nacken besichtigen konnte, war es hier leicht, Details zu erkennen. Wilhelm I. saß steif auf seinem Pferd, neben sich die antike Frau in wallendem Gewand, der so genannte Genius, der etwas in der Hand trug, das wie ein Zepter aussah.
»Das Einzige, was an dem Ding lebendig wirkt, ist das Pferd«, sagte Mike. Das Tier wirkte gequält. Sein Maul stand offen, obwohl der Kaiser die Zügel nicht angezogen hatte.
»Das Pferd ist das Symbol für das Volk, das den Kaiser ertragen muss«, sagte Anita. »Ich glaube, wenn es nach ihm ginge, würde es den alten Sack einfach abwerfen.«
Mike überlegte, was Dr. Lange wohl zu dieser Theorie sagen würde. Wenn er ihn noch mal traf, musste er ihn unbedingt danach fragen.
Sie durchquerten den Raum, kamen an den alten Gemälden vorbei und fanden die Treppe, auf die sie die Frau am Eingang hingewiesen hatte. Es waren nur wenige Stufen, dann gelangten sie in einen anderen, überraschend hellen Raum. Ein großes Fenster ging auf die Mosel hinaus; man
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