Schängels Schatten
bezahlt. Er hat die Vaterschaft noch nicht mal anerkannt. Er hat Inge einfach im Stich gelassen. Wilfried hat sehr darunter gelitten, dass er keinen Vater hatte. Und dann, als er etwa zwanzig oder so war, hat er sich vorgenommen, seinen Vater zu suchen.«
»Was hat denn seine Mutter davon gehalten?«
»Sie hatte ein bisschen Angst, glaube ich. Aber er hat’s gemacht. Ich weiß noch wie heute, dass er zurückkam und sich richtig gefreut hat. Er hat gesagt: ›Jetzt haben wir bald Geld. Bald wird es uns besser gehen.‹ Inge fiel da ein Stein vom Herzen. Wissen Sie, sie hat damals als Kassiererin beim Edeka gearbeitet, das war nicht einfach, und so ein bisschen getrunken hat sie auch schon.«
»Das heißt, Wilfried Ramann ist damals nach Amerika geflogen.«
»Sicher.«
»Wann war das?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht mehr. Wann ist er noch mal gestorben?«
»1982«, sagte Mike.
»Das muss im Jahr davor gewesen sein. Es war im November, das weiß ich noch. Da ist er gerade hier zu seiner neuen Einheit versetzt worden. Und es hat erst Probleme gegeben, wegen dem Urlaub.«
Mike registrierte, dass zwischen der Amerikareise und Ramanns Tod nur ein halbes Jahr lag. »Haben Sie damals schon hier gewohnt?«
»Ja.«
»Hier ist Wilfried Ramann aufgewachsen?«
Sie nickte. »Und das mit dem Geld war wichtig. Er hatte ja eine Freundin. Er war Soldat, hatte also einen guten Beruf, und da wollte er auch eine Familie gründen.«
»Eine Freundin, sagten Sie?«
»Aber ja. Wissen Sie das nicht? Sie ist doch damals auch verhört worden.«
Mike dämmerte etwas. Irgendjemand hatte schon mal eine Freundin erwähnt. Der Archivar. Verdammt, das hatte er vollkommen übersehen.
Frau Franzen sprach weiter. »Die Polizei hat alle verhört, die ganzen Bundeswehrkameraden, seine Vorgesetzten. Und die Freundin auch. Obwohl das natürlich Kabbes war. Die Freundin war doch die, die am ärgsten dran war – bis auf Inge natürlich. Und Inge hat sich so da reingesteigert, sie hat alle Artikel aus den Zeitungen gesammelt, aus der Rhein-Zeitung und dem Schängel, und da hat sie ein Album angelegt und die Bilder vom Wilfried aufgehängt. Ich hab gesagt, Inge, das hat doch keinen Zweck …«
»Schängel?«, fragte Mike dazwischen. »Artikel im Schängel?«
»Ei ja, das ist doch die Zeitung, die da immer kommt.«
Was war er nur für ein Idiot! Der Schängel – natürlich!
»Und alles, was da drin gestanden hat, hat sie gesammelt.« Frau Franzen wischte sich mit den Handflächen über den Kittel. »Und statt dass er Geld von seinem Vater nach Hause bringt, wird er umgebracht …«
»Hat der Vater noch mal was von sich hören lassen – ich meine nach Wilfrieds Tod?«, fragte Mike.
»Nein. Inge selbst hat ja mit ihm gar nicht gesprochen.«
»Und er ist auch nicht hier gewesen?«
»Inge hätte es mir sicher erzählt.«
»Wissen Sie eigentlich, dass sich Richard Nair immer sehr für das Denkmal am Deutschen Eck interessierte?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das tun die Amis doch alle.«
Mike griff in die Hosentasche. Dort hatte er die zusammengefalteten Blätter mit den Ausdrucken aus dem Internet verstaut. Er strich die Seiten auf dem Knie glatt.
»Kennen Sie dieses Bild?«
Frau Franzen nahm das Blatt und runzelte die Stirn. »Einen Moment.«
Sie stand auf, ging aus dem Zimmer und kam mit einer schwarz geränderten Brille auf der Nase wieder.
»Das ist Wilfried«, sagte sie und deutete auf das Blatt. »Und was ist das für ein Zeug da?«
»Ich denke, das ist das Kaiserdenkmal. In zerstörtem Zustand.«
Sie nickte. »Ja, und sie haben es ja später wieder aufgebaut.«
Frau Franzen dachte offenbar, das heutige Denkmal am Deutschen Eck sei das alte, einfach nur repariert. Und nicht ein kompletter Nachbau, was es ja tatsächlich war. In den Köpfen der Leute war es wahrscheinlich einfach nur das Denkmal und fertig. Er ließ sie in dem Glauben.
»Wussten Sie, dass Wilfried etwas mit dem Denkmal zu tun hatte? Oder wissen Sie vielleicht, wo das Foto aufgenommen wurde?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hat sich Wilfried auf irgendwelchen Schrottplätzen herumgetrieben?«
Sie zuckte die Achseln. »Nein. Aber das kann ja überall sein.«
»Sie haben vorhin gesagt, Wilfried Ramann hätte eine Freundin gehabt. War die auch mit in Amerika?«
»Ich weiß nicht. Kann sein.«
»Wissen Sie den Namen der Frau?«
Sie runzelte die Stirn und sah zu Boden. Dann blickte sie Mike an. »Aber den müssen Sie doch kennen! Das stand doch
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