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Schärfentiefe

Titel: Schärfentiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: I Mayer-Zach
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wurden.
    Gerade als sie in der kleinen Bahn durch den Park fuhren, rief Paulas Mutter an und verkündete ihr die Hiobsbotschaft, dass dieses Jahr auch Tante Irma mit ihnen Weihnachten feiern würde.
    „Tante Irma? Da wäre mir die Ente noch lieber.“
    „Was hätte ich tun sollen? Onkel Karl und seine Familie verbringen heuer Weihnachten in Miami und er hat mich gebeten, Tante Irma aufzunehmen.“
    Kein Ort kann weit genug von Tante Irma entfernt liegen, dachte Paula bitter. Tante Irma war die Schwiegermutter von Onkel Karl, Mutters Bruder, und sie war schlicht und einfach gesagt eine Zumutung. Paula hatte volles Verständnis für OnkelKarl und dessen Flucht. Nichts anderes konnte das sein. Es war nur Pech, dass sie nun die ätzende Alte am Hals hatten. Aber so deutlich sagte sie das ihrer Mutter nicht.
    Paula hatte Tante Irma noch nie leiden können. Sie erinnerte sich noch gut an einen Nachmittag, den sie bei Tante Irma verbringen musste, weil ihre Mutter einen dringenden Weg hatte und keine andere Kinderbetreuung organisieren konnte. „Bei Tisch reden nur die Erwachsenen“ oder „Gegessen wird, was auf den Teller kommt“, stellte Tante Irma gleich zu Beginn klar, und so musste Paula die scheußliche Erbsensuppe aufessen und danach mucksmäuschenstill in einer Ecke spielen. Wenigstens erlaubte ihr Tante Irma Musik zu hören und vorsichtig die Schallplattenhüllen mit den Fotos der Künstler zu betrachten. Es war das einzige Mal gewesen, dass ihre Mutter sie bei Tante Irma gelassen hatte.
    Solange sich Paula erinnern konnte, war sie eine Diktatorin und Besserwisserin gewesen, deren Hauptbeschäftigung es war, über andere herzuziehen. An jedem, der keinen Titel oder sonstige besondere Leistungen vorzuweisen hatte, fand sie etwas auszusetzen. Dabei hatte sie selbst nie mehr als die Grundschule besucht. Aber dann hatte sie einen Akademiker geheiratet und somit am Standesamt promoviert. Das weitaus Schlimmste aber war, dass Tante Irma eine alte Nazi war, die sich trotz der aktuellen Geschichtsschreibung oder vielleicht gerade deswegen nicht schämte, die Ära Hitler als die große Zeit Österreichs darzustellen. Am heutigen System ließ sie kein gutes Haar. Dabei kassierte sie, dank des Ablebens ihres fleißigen Mannes, jeden Monat eine stattliche Pension und lebte in einer hundert Quadratmeter großen Hauptmietwohnung, die nicht einmal dreihundert Euro im Monat kostete. Nicht zu reden von den unzähligen Vergünstigungen und Services, die der Staat seinen Pensionisten bot und die sie selbstverständlich gerne in Anspruch nahm.
    Das einzig Gute, das Paula an ihr entdecken konnte, war ihre Liebe zur Musik. Sie hatte eine ansehnliche Sammlung klassischer Musik. Darunter zahlreiche alte Schallplatten. Da sie bald achtzig Jahre alt war, kannte sie viele Geschichten und Anekdoten zu Sängern und Musikern, die bereits in Vergessenheit geraten waren. Natürlich hatte sie zeit ihres Lebens eine Vorliebe für alle Skandale, die sich rund um Künstler abgespielt hatten.
    „Ach ja“, fuhr Eleonora fort, „das hätte ich fast vergessen. Ich habe mit der jungen Frau gesprochen, du weißt schon, die ich in Zusammenhang mit Stefan Urban erwähnt habe.“ Paula ahnte Schreckliches. Wahrscheinlich war ihre Mutter in ihrer direkten Art auf die Frau zugegangen und hatte sie unverblümt auf das Gerücht von ihrem Techtelmechtel mit dem Fotografen angesprochen. Eleonora war der Meinung, dass man über alles reden könne, für sie gab es kein peinliches Thema. Das Problem war nur, dass ihre Mitmenschen diese Auffassung nicht immer teilten. „Sie heißt übrigens Frieda Dietl und hat mir gesagt, dass du jederzeit, wenn du wieder in der Nähe bist, bei ihr vorbeikommen kannst. Apropos, sehen wir uns noch vor Weihnachten? In einer Woche haben wir hier eine Lesung von einer meiner Freundinnen, das wäre doch ein guter Anlass? Da kommt die Frieda sicher auch hin.“
    Paula versprach, es sich durch den Kopf gehen zu lassen und sich in den nächsten Tagen zu melden. Dann versank sie wieder in vorweihnachtliche Stimmung. Zum Schluss ihres Weihnachtsbummels fuhren Linda, Sarah und Paula mit der Straßenbahn eine „Ringrunde“, vorbei am Parlament, dem Natur- und dem Kunsthistorischen Museum, der Hofburg, der Oper, vorbei an Parks und weihnachtlich beleuchteten Geschäften und Gebäuden.
    Als sie bereits auf dem Weg zum „Einstein“ war, läutete nochmals das Telefon.
    „Frau Ender?“, meldete sich eine leise Männerstimme.
    Paula

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