Schärfentiefe
geworden. Die Zitterpartie um weiße Weihnachten hatte wie jedes Jahr eingesetzt. Jedem Wetterbericht in den Medien schloss sich fast zwangsläufig die vage Vorausschau auf diese unsichere Aussicht an. Die Moderatoren taten ihr Bestes.
Am Nachmittag ging sie mit ihrer Freundin Linda und der kleinen Sarah auf den Wiener Christkindlmarkt vor dem Rathaus, das sich als riesiger Adventkalender präsentierte, der in regelmäßigen Intervallen die Farbe wechselte. Ein Sammelsurium an verschiedenen Sprachen ertönte von allen Seiten, überall das gleiche Lachen und glänzende Augen von Groß und Klein, die mit den unzähligen Lichtern der Weihnachtsstände um die Wette strahlten.
Die Bäume im angrenzenden Rathauspark waren mit Schneemännern und Zwergen geschmückt, Paulas Favorit war jedoch der Herzerl-Baum, der das weihnachtliche Dorf beleuchtete. Eine gelungene Inszenierung des Weihnachtszaubers mit Torbögen, Märchenmotiven, einer Liliputbahn, die durch den Park fuhr, niedlichen Stöpseln, die ihre Ponyrunden drehten, und Omas und Opas, die in einem der Häuschen Geschichten für große und kleine Besucher vorlasen. Und über all dem der Duft von Punsch, frisch gebackenen Keksen, kandierten Früchten, Zuckerwatte und heißen Maroni. Kitschig, keine Frage, und doch so schön – trotz der ständig steigenden Besucherzahl.
Sie sahen sich die Krippenausstellung im Rathaus an, und Sarah bastelte bei einer Kindertante eine Kerze für Paula.
Bisher hatte sich Paula immer vor derlei vorweihnachtlichen Unternehmungen mit Kindern gedrückt, hatte ihre Arbeit vorgeschoben, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass es Spaß machen würde, mit solch kleinen Knirpsen seine Zeit zu verbringen. Aber heuer war alles anders. Und wie sie Sarah so voller Hingabe an der Kerze arbeiten sah, die sie danach stolz Paula schenkte, da regte sich zum ersten Mal in ihrem Leben der Gedanke, wie es denn wäre, selbst ein Kind zu haben und mit ihm die Welt neu zu erleben und zu entdecken. Verliebtheit war etwas Wunderbares, weil plötzlich vieles, was bis dahin völlig uninteressant war, einen neuen Stellenwert erhielt. Und es war auch hin und wieder schön, in Klischees zu denken und zu fühlen. Vergessen war das Lamentieren der verheirateten Freundinnen über fehlende Romantik im Alltag, den quälenden Zeitdruck und den temporären Verlust eines eigenen Lebens. Vielmehr erschien Paula genau diese Lebenssituation plötzlich als die ideale und erstrebenswerte. Vor ihren Augen lief ein Werbespot ab, bei dem sich Vater, Mutter und Kinder in der warmen Stube versammelten und Tee tranken, während draußen der Wind pfeifend ums Haus strich.
Immer wieder hatte in diese Weihnachtsidylle hinein das Handy geläutet. Markus hatte angerufen und ihr gesagt, dass sie sich heute nicht sehen würden, da er nicht wusste, wie lange er bis zur Verkündung eines Urteilsspruchs bei Gericht ausharren musste. Es konnte Stunden dauern, bis die Geschworenen ein Urteil gefällt hatten. Es blieb ihnen keine Zeit für zärtliches Geplänkel, weil bei ihm ein anderer Anrufer anklopfte. Ein Küsschen, bis bald.
Mehrere Male hatte Paula bei Konrad Blesch angerufen, aber sie hatte ihn nie erreicht. Sie wollte nochmal bei ihm vorbeischauen und ihn um einige Fotos für die Biografie bitten.Das sprach sie auch auf seinen Anrufbeantworter, aber bis jetzt hatte er sich nicht bei ihr gemeldet.
Dafür meldete sich Ada. Paula war gerade dabei, heißen Früchtepunsch zu trinken und sich ein Bratenfettbrot mit Zwiebeln einzuverleiben. Sie erzählte Ada von ihrem Besuch bei Blesch. Ada versicherte ihr, dass sie sich das nächste Mal auf jeden Fall freinehmen würde, wenn Paula wieder zu ihm ging. Und auch beim heutigen Treffen mit der Wagner wollte sie unbedingt dabei sein und nicht noch ein zweites möglicherweise interessantes Gespräch versäumen.
Sie fragte, ob sie Santo schon erzählen durfte, dass die Biografie gut voranging. Paula hatte nichts dagegen.
„Ich habe da nämlich eine Idee“, raunte Ada geheimnisvoll, „Urban hat lange Zeit in Paris gelebt. Es wäre doch großartig, wenn wir es so drehen könnten, dass wir für die biografischen Recherchen einige Tage nach Paris fahren müssten?“ Wieder einmal einige Tage in Paris zu verbringen, war eine gute Idee. Genauso gut wie jene, nach den fetten Aufstrichbroten mit Zwiebeln gebrannte Aschanti zu kaufen und zuzusehen, wie die Erdnüsse vor ihren Augen mit der köstlich pickenden Zuckerglasur überzogen
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