Schärfentiefe
ein Gefühl von Ehrfurcht, wenn sie sich vorstellte, wie viele Bücherliebhaber und -sammler seit dem 14. Jahrhundert die Hofbibliothek betreten hatten. Am liebsten mochte sie den pompösen Prunksaal, den man vom Josefsplatz aus erreichte. Hier hatte der Baumeister Fischer von Erlach ein wahres Meisterwerk vollbracht, das inzwischen mehr als zweihunderttausend Bände beherbergte. Hin und wieder ging sie einfach nur so hinein: um zu schauen und sich von dem angehäuften Wissen, das sich hier befand, inspirieren zu lassen.
Heute allerdings hatte sie keine Zeit zu verlieren. Jetzt hieß es die Benutzerkarte finden, damit sie an der Sperre vorbeikam. Wo zum Teufel war das Ding nur? Unter dem strengen Blick des Aufsichtsbeamten wühlte sie in ihrer Tasche, so lange, bisihr einfiel, dass sie die Karte bereits vorhin in die Manteltasche gesteckt hatte, um sie schneller bei der Hand zu haben.
Paula suchte über zwei Stunden auf Mikrofichen und in alten Illustrierten, konnte aber nichts Brauchbares über die Pianistin Elsa Tin finden. Der Weg war vergeblich gewesen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie derzeit keine Geduld für ausgiebige Recherchen hatte. Sie war innerlich zu aufgewühlt. Auch wollte sie rasch einen Ersatz für den gestohlenen Computer finden, der ihr schon jetzt abging. Also beschloss sie, die umliegenden Computerfachgeschäfte abzuklappern.
Sie wollte ein anderes Mal wiederkommen, wenn sie mehr Muße hatte. Zum Abschluss genehmigte sie sich einen Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten mit Blick auf den verschneiten Burggarten. Nun, da Weihnachten vorbei war, schneite es, als hätte der Himmel alle Schleusen geöffnet.
Beim Ausgang brauchte sie nicht mehr nach der Benutzerkarte zu suchen. Der Aufsichtsbeamte öffnete den Schranken, als er sie sah. Nachdem sie die handyfreie Zone der Bibliothek verlassen und das Telefon wieder eingeschaltet hatte, sah sie, dass drei Anrufe eingegangen waren.
Der erste stammte von Ada, die sie um raschen Rückruf bat. Sie hatte die Unterlagen, die sie aus Urbans Haus entwendet hatten, durchgesehen und wollte ihr dringend etwas persönlich mitteilen.
Die beiden anderen waren von Doktor Znan und Konrad Blesch. Letzterer entschuldigte sich für sein Verhalten bei ihrem letzten Besuch und bat sie, ihn anzurufen. Es sei ihm noch etwas eingefallen, das für sie möglicherweise interessant sein könnte.
Paula glaubte nicht, dass es etwas Wichtiges war. Wahrscheinlich hatte ihn nach den Weihnachtsfeiertagen die Einsamkeit gepackt.
Trotzdem wählte sie seine Nummer zuerst.
Seine Stimme klang erfreut, als sie sich meldete.
„Hören Sie, ich möchte mich nochmals für mein Benehmen beim letzten Mal entschuldigen“, setzte er die Litanei, die er bereits auf die Mailbox gesprochen hatte, fort.
„Es tut mir sehr leid. Aber Sie müssen verstehen, ich muss wegen meiner Krankheit sehr starke Medikamente nehmen, und wenn ich sie nicht richtig dosiere, was schon mal vorkommt, dann schlagen sie sich auf meine Psyche, und ich sage Sachen, die ich eigentlich gar nicht so meine.“
Eine bequeme Art, sich herauszureden, dachte Paula, laut aber antwortete sie, dass sie seine Entschuldigung annehme und hoffe, dass es ihm nun wieder besser gehe.
„Formulieren wir es so: Ich habe heute zumindest keine Schmerzen und fühle mich auch mental ganz gut. Daher habe ich Sie auch gleich angerufen, denn ich weiß nie, wie lange dieser Zustand anhält.“
„Und was wollten Sie mir sagen?“
Wenn Blesch glaubte, dass sie nochmals zu ihm in die Wohnung kommen würde, täuschte er sich. Ein drittes Mal würde sie seiner Einladung nicht nachkommen. Aber Blesch schien nichts dergleichen geplant zu haben.
„Sie erinnern sich sicher noch an das Foto mit den drei Männern und der blonden Frau?“, begann er direkt und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Sie müssen entschuldigen, aber ich habe ziemlich überreagiert, als Sie wissen wollten, wer das ist. Aber das kam mir erst später zu Bewusstsein“, wiederholte er sich.
Paula enthielt sich einer Antwort.
„Jedenfalls möchte ich Ihnen bei Ihrer Arbeit weiterhelfen und darum will ich Ihnen sagen, wer diese Frau ist und weshalb ich so reagiert habe. Diese Frau war der Grund, dass Urban nach Paris gegangen ist und ich seine Freundschaft für viele Jahre entbehren musste.“
Blesch machte eine Pause.
„Die junge Dame war eine bekannte Pianistin und war sehr gut mit Urban bekannt.“
„Ja, ich weiß. Sie hieß Elsa Tin.“
„Oh,
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