Schaerfer als Wasabi
Nase ein. Er liebte es, in der Nacht spazieren zu gehen. Samstags war es zwar nicht so ruhig wie unter der Woche, dennoch wollte er nicht auf seine Gewohnheit verzichten. Davor war er noch auf ein Bier eingekehrt, hatte sich mit den wenigen Freunden getroffen, die ihm nach seiner Scheidung letztes Jahr geblieben waren. Plötzlich durchdrangen laute Stimmen die Dunkelheit, es hörte sich an wie ein übler Streit. Als Gregor um die Ecke bog, sah er zwei Typen, die einen jungen Mann gegen eine Hauswand drängten und brutal auf ihn einprügelten. Immer wieder schlug der dickere Kerl auf sein wehrloses Opfer ein und beschimpfte es. Gregor konnte nicht verstehen, was er brüllte, da der Lärm von der Straße viel verschluckte. Er zögerte nur einen winzigen Moment, dann eilte er mit großen Schritten auf das Szenario zu.
„Hey! Lasst ihn sofort los!“
Gregor wusste nicht, ob es sein wehender schwarzer Mantel war, der ihn aussehen ließ wie Van Helsing, seine große Statur oder seine dunkle Stimme. Jedenfalls ließen diese beiden Arschlöcher ihr Opfer fallen, als hätten sie sich an ihm verbrannt und ergriffen die Flucht. Der junge Mann sank schwer atmend an der kalten Mauer hinunter und krümmte sich zusammen. Mit ein paar Sätzen war Gregor bei ihm und neigte sich hinab.
„Alles in Ordnung?“ Einen Moment glaubte er, der Junge habe das Bewusstsein verloren, weil er nicht gleich antwortete. Doch die bebenden Schultern verrieten ihn. „Es ist alles gut … sie sind weg.“ Gregor ging in die Hocke und legte ihm ganz sachte die Hand auf die Schulter, worauf er leicht zusammenzuckte und den Kopf hob. Es war ziemlich düster in der kleinen Seitenstraße, und doch verschlug es Gregor für einige Sekunden die Sprache, als er in das Gesicht des jungen Mannes blickte. Er besaß ein außergewöhnlich ebenmäßiges, zartes Gesicht. Langes Haar umrahmte das bleiche Antlitz, aus dem ihn große Augen anstarrten. Er konnte nicht älter sein als achtzehn oder neunzehn Jahre.
Aus der Nase lief ihm Blut, und seine Lippe war aufgeplatzt. Gregor räusperte sich. „Kannst du aufstehen?“
„Ja, ich glaube schon.“
Gregor stützte ihn, zusammen erhoben sie sich. Der junge Mann stöhnte schmerzerfüllt auf und legte die Hand an den Hinterkopf. Als er sie wieder wegnahm, erkannte Gregor, dass Blut daran haftete.
„Scheiße. Komm, ich bringe dich ins Krankenhaus. Mein Wagen steht nicht weit von hier. Denkst du, du schaffst das?“ Gregor deutete mit einem Kopfnicken die Gasse hinunter.
„Nein, nicht ins Krankenhaus!“
„Aber du bist verletzt, und es muss vielleicht genäht werden.“
„Nicht ins Krankenhaus“, wiederholte der Junge leise. „Ich … ich arbeite dort als Pfleger und möchte von meinen Kollegen nicht unbedingt in dieser Situation gesehen werden.“
„Verstehe.“ Gregor überlegte einen Moment. „Na schön. Ich bringe dich zu einem Freund. Er ist Arzt.“
„Mitten in der Nacht?“
„Das ist kein Problem, er ist ein sehr guter Freund. Kannst du laufen?“
„Ich denke schon. Vielen Dank übrigens.“
„Schon gut. Ich bin übrigens Gregor.“ Gregor streckte ihm die Hand entgegen.
„Robert.“
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Gregor lenkte den Wagen aus der Einfahrt und warf Robert einen Blick von der Seite zu. „Es geht mich ja nichts an – aber wer waren diese Typen?“
Robert zögerte, hob den Kopf, als müsse er Tränen zurückhalten. „Einer davon war … mein Bruder.“
„Was?“ Gregor stieß ein Keuchen aus. „Aber wie … warum?“
Robert verschränkte die Arme vor der Brust und blickte durch das Fenster in die vorbeiziehende Dunkelheit. Unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, nur der Lärm des Motors war zu hören.
„Entschuldige, ich wollte nicht zu neugierig sein.“ Gregor biss sich auf die Lippen und schalt sich einen Idioten.
„Ist schon in Ordnung.“ Robert seufzte leise. Es schien ihm schwer zu fallen, weiter zu sprechen. „Max – mein Halbbruder hat … hat herausgefunden, dass ich ...“, er fuhr sich nervös über den Kopf und atmete geräuschvoll aus. „Dass ich schwul bin. Ein Typ, den ich hab abblitzen lassen, hat es ihm gesagt.“
Gregor zuckte innerlich zusammen. Er brauchte einige Sekunden, bis er antworten konnte.
„Deswegen schlägt er seinen eigenen Bruder zusammen?“, stieß er hervor. Seine Stimme hörte sich lauter und zorniger an, als er beabsichtigt hatte.
Robert nickte. „Genau deswegen. Und mein Vater wird ähnlich reagieren, wenn er es erfährt.
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