Schafkopf
seinem Großvater die Tür öffnen sollte, entschied dann aber, den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Zum einen sagte er sich, das Schlüsselgehampel sei eine gute Übung für Manfreds Feinmotorik und dass dem alten Mann nicht damit geholfen sei, wenn man ihm alles abnahm. Zum anderen fand Wallner, dass jemand, der sich die Zeit mit jungen Mädchen vertrieb, auch in der Lage sein sollte, ein Haustürschloss zu öffnen. Mit Rücksicht auf Manfreds Leiden hatten sie sogar auf ein modernes Zylinderschloss verzichtet und das alte Schloss mit dem klobigen Schlüssel beibehalten. Ein Umstand, der Wallner eine Rüge vom Sicherheitsexperten der Kripo eingetragen hatte. Da schinde man sich ab, um die Bevölkerung auf den neuesten Stand der Einbruchsicherheitstechnik zu bringen, und dann gäben die eigenen Leute so ein Vorbild!
Ein Rasseln und kurz darauf ein Klacken. Manfred hatte das Türschloss geschafft. Und noch etwas kündete davon, dass Manfred im Haus war: Er summte ein Lied vor sich hin. Wallner meinte, so etwas wie »Geh aus, mein Herz, und suche Freud« herauszuhören, oder vielleicht war es auch eine Schlagermelodie aus den Siebzigern. Der Hausflur war jedenfalls erfüllt von guter Laune.
Der Gesang entfernte sich. Wallner vermutete, dass Manfred in die Küche gegangen war. In die Melodie mischte sich das Geräusch einer Kühlschranktür, anschließend ein Zischen, dem wiederum der charakteristische Klang eines auf die Arbeitsplatte fallenden Kronkorkens folgte. Hängeschranktür, Gläsergerücke, Hängeschranktür zu. Der Gesang wurde wieder lauter und kam ins Wohnzimmer.
»Hmmm hmhm hmmm«, summte Manfred. »Hast den Ofen angemacht. Sehr gut. Hat ’s Brikett noch geglüht? Hmmm hmhm hmmm.«
»Ja, hat es. Ein Brikett reicht aber nicht, wenn du länger weg bist. Es waren neunzehn Grad im Raum.«
»Au weh! Hmmm hmhm hmmm.« Manfred klackerte jetzt mit der Bierflasche an das Weißbierglas. Es war der riskante Versuch, sich das Bier selbst einzuschenken. Wallner beobachtete Manfreds Treiben mit Sorge. Nachdem Manfred lange Zeit auf ein ordnungsgemäßes Weißbierglas hatte verzichten müssen, weil die keine Henkel hatten und Manfred Gläser ohne Henkel schon mal fallen ließ, hatte Wallner vor kurzem dann doch eines mit Henkel entdeckt und Manfred geschenkt. Es war das schönste Geschenk, das er Manfred hatte machen können. Denn für den Weißbiertrinker ist es eine Qual, das Weizen aus einem klobigen Bierseidel mit Henkel trinken zu müssen. Klobige Bierseidel wiederum waren im Vorteil, wenn es um Aspekte wie Haltbarkeit ging. Da konnte man lange mit einer Flasche hinklackern, bevor ein Bierseidel brach. Wallner stand auf und entwand Manfred Glas und Flasche mit sanfter Gewalt.
»Komm, ich mach das. Sonst ist das schöne Glas gleich wieder hin«, sagte er. Manfred ließ es geschehen. Er wusste, dass er sich sein Weißbier nicht selbst einschenken konnte, außer er hatte starke Medikamente genommen. Aber dann sollte er auch keinen Alkohol trinken.
»Hab vorhin versucht, dich anzurufen.«
»Hab nix gehört. Hier? Daheim?«
»Auf deinem Handy.«
Manfred stutzte, griff in die linke Tasche seiner Daunenjacke und zog sein Handy heraus. Er starrte auf das Display. Aber da er keine Erfahrung im Umgang mit Handys hatte, hätte er ebenso gut eine Tafel mit Keilschrifttexten betrachten können. Wallner nahm Manfred das Handy aus der Hand und drückte einen Knopf. Das Display leuchtete auf. Wallner deutete auf ein Symbol. »Da, dieses Symbol, ein Brief oder was das sein soll. Das heißt, dass da ein Anruf war.«
»Ja, ja. Das hast mir mal gezeigt. Wieso hab ich das jetzt net gehört?«
Wallner gab Manfred das gefüllte Weißbierglas. »Weil das Handy auf leise gestellt ist.«
»Ja so ein Schmarrn. Da kann ich ja nix hören.«
»Du kannst es eh nicht hören. Weil die Töne zu hoch sind. Deswegen hab ich es auf Vibration gestellt.« Manfred starrte Wallner unsicher an, als erwarte er eine weiterführende Erläuterung. »Das vibriert, wenn ein Anruf reinkommt.«
»Ach, das war des! Ich hab mich schon g’wundert, dass des so bizzelt. Da an der Lende.« Manfred deutete auf die entsprechende Stelle seiner Daunenjacke.
»Soso. An der Lende hat’s gebizzelt«, konnte sich Wallner nicht zurückhalten anzumerken.
»Ja, wegen deinem Anruf. Hast was draufgesprochen?«
»Wieso soll ich denn was draufsprechen? Du kannst es doch eh nicht abhören.«
Manfred konnte der Logik dieses Satzes wenig entgegensetzen.
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