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Schalom

Titel: Schalom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ihm zusammen aufgebrochen.«
    Sie wollte in die Küche gehen, ihm die Teigtaschen servieren, den Salat anmachen, aber Avri umarmte sie, wie er es noch nie getan hatte, und plötzlich waren seine Hände groß und stark wie Menachems Hände, und sie erlaubte sich, in dieser Umarmung zu versinken, und legte ihr Gesicht an seine Brust. Sie spürte seine Hand auf ihrem Rücken und begriff plötzlich, was Avri gesagt hatte: Jener Deutsche, der Freund, den Gil mitbringen wollte, war mit ihm gefahren. Sie richtete sich auf und schaute Avri an.
    Sie fragte: »Und was hat er gesagt?«
    Avri wunderte sich: »Wer?«
    »Dieser Deutsche«, sagte sie tadelnd, und wieder hatte sie das Gefühl, als wollte Avri Zeit gewinnen, um eine Hiobsbotschaft hinauszuschieben.
    »Welcher Deutsche?«
    Sie war wütend: »Komm schon, Avri, welcher Deutsche? Der Freund, von dem du sagtest, dass er mit Gil gefahren ist.«
    Avri stand da und starrte sie an, und plötzlich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
    »Mutter, du bist ein Genie!«, rief er. »Daran hat bisher keiner gedacht!«
    »Avri«, sagte sie wütend, »ich möchte, dass du mir nichts verheimlichst, ich habe im Leben schon genug durchgemacht. Sag mir bitte, was mit Gil passiert ist.«
    »Setz dich hin, Mutter«, sagte er.
    Er wolle ihr erzählen, worauf sie ihn eben gebracht habe. Was sollte das? Hielt er sie etwa für senil? Sie wollte schon anfangen, ihn zu beschimpfen, aber sein Gesicht strahlte so sehr, dass ihre Wut erlosch, erstaunt sah sie ihn an. Was stimmte ihn auf einmal so fröhlich? Bisher hatte er sich besorgt angehört, weil es kein Lebenszeichen von Gil gab. Und jetzt …
    Sie lehnte sich zurück und lächelte unsicher, ohne zu wissen, warum. Aber das war auch egal.
    »Verstehst du, Mutter?«, sagte er. »Es gibt nur einen nicht identifizierten Mann unter den Opfern des Unglücks, und Karl-Heinz steht weder auf der Liste der Geretteten noch auf der der Toten.«
    »Wer ist Karl-Heinz?«, fragte sie verwirrt. Er hielt ihre Hand und lächelte und begann ihr zu erklären, dass Karl-Heinz Gils Freund sei, das heißt, der nicht identifizierte Tote hätte auch Karl-Heinz sein können, ebenso gut wie es Gil hätte sein können. Wenn beide im Bus gewesen wären und einer der nicht Identifizierte war, musste der andere unter den Geretteten oder den Toten sein. In jedem Fall wäre er inzwischen identifiziert! Wenn also weder Gil noch Karl-Heinz auf der Liste standen, war das ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Gil nicht im Bus war.
    Sie konnte seinen Gedanken nicht ganz folgen, verstand aber die Schlussfolgerung. Die Tatsache, dass dieser Freund, der Deutsche, nicht im Bus war, war für ihn der Beweis, dass auch Gil nicht darin gewesen sein konnte. Es klang logisch. Aber hatte er vorhin nicht gesagt, dass die beiden zusammen aufgebrochen waren? Das hieß ja nicht, dass sie den Ausflug auch wirklich zusammen unternommen hatten, oder?
    Eben noch war Avri sich sicher gewesen, aber als sie diese Frage stellte, musste er zugeben, dass er nur wusste, dass sie geplant hatten, den Ausflug zusammen zu unternehmen, und dass sie zusammen aufgebrochen waren.
    »Soll ich es Jaki und Anna sagen? Vielleicht würden sie sich dann doch nicht auf den Weg machen«, sagte er.
    Warum sollte er es Jaki nicht sagen? Und warum machten sie sich ausgerechnet dann auf den Weg, wenn ihr Sohn vermisst wurde? Sie sagte nichts, aber Avri sah ihr an, dass sie es nicht verstand.
    »Sie sind unterwegs nach Frankfurt, ihre Maschine fliegt morgen.«
    »Wohin fliegen sie jetzt?«, fragte sie.
    »Ich habe dir doch gesagt, dass sie kommen!«
    »Sie kommen hierher?«, fragte sie erschrocken. Und sofort hörte sie Menachems laute Stimme: »Kein Deutscher wird dieses Haus je betreten! Auch deine Frau nicht und nicht ihre Kinder.«
    Doch das musste sie nicht aussprechen, Avri hatte die Worte damals selbst gehört. Und ihre Angst, als er sagte, sie würden kommen, war ihm nicht entgangen.
    »Hab keine Angst, Mutter«, sagte er. »Sie wird nicht hierherkommen. Ich habe alles mit dem Altersheim organisiert.«
    Die Worte drangen in ihre Ohren, sie erschauerte.
    »Bist du verrückt?«, zischte sie. »Wieso mit dem Altersheim?« Und dann begriff sie, was er gemeint hatte, und obwohl sie sofort beruhigt war, sprach sie im selben Ton weiter.
    »Was fällt dir ein? Ich gehe in kein Altersheim.« Sie wusste, dass er ihr jetzt in aller Ausführlichkeit erklären musste, dass er für Jaki und seine Frau eine Unterkunft im

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