Schalom
Zimmerecke. Hatte sie Anna mit einem Kopfnicken begrüßt oder träumte er das nur? Er stand zu nah neben ihr, um es genau zu sehen, aber Annas Kopfnicken hatte er bemerkt. War es den anderen auch aufgefallen? Wenn er Anna nicht versprochen hätte, sich nicht einzumischen, hätte er jetzt etwas unternommen. Er schaute Anna an. Ihr Blick befahl ihm, alles ihr zu überlassen. Doch als alle sich an den Tisch setzten, machte er Anna ein Zeichen, sie möge näher kommen. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich neben ihn.
Die Mutter fing an zu sprechen, sie hörte überhaupt nicht auf. Noch nie war sie so gesprächig gewesen. War das ein Zeichen, dass sie alt wurde, oder war sie verlegen, weil Anna da war? Jaki warf seinem Bruder einen Blick zu, der zuckte mit den Schultern, als wolle er bestätigen, dass auch er die Gesprächigkeit der Mutter nicht kannte. Solange sie über Gils Empfindsamkeit und Sanftmut sprach, fühlte er sich geschmeichelt, aber als sie die gute Erziehung pries, die er bei Jaki genossen habe, konnte er sich nicht mehr zurückhalten.
»Mutter …«, sagte er. Er wollte ihr entgegenhalten, dass Anna für diese Erziehung verantwortlicher war als er, aber in dem Moment drückte Anna ihre Hand fester auf sein Knie und stoppte ihn. Er lächelte sie gehorsam an und sank zurück.
Erst als Zila ihnen Tee und Marmeladenkekse servierte, wurde die Mutter in ihrem Redefluss gebremst. Anna nahm die Hand nicht von seinem Knie und drückte sie jedes Mal fester, wenn er sich aufrichtete. Er und Avri sagten ab und zu ein Wort der Bestätigung oder stellten eine Frage, aber Anna sagte nichts. Als er Annas Schweigen nicht mehr aushielt, blickte er sie halb fragend, halb vorwurfsvoll an, doch sie drückte wieder fester mit der Hand auf sein Knie und ihre Augen ermahnten ihn, sich zurückzuhalten.
Die Mutter wandte sich nicht an Anna und sprach sie nicht an, aber während sie mit ihnen sprach, ließ sie ihre Blicke über den Tisch schweifen, und ihm entging nicht, dass sie auch immer wieder verstohlen zu Anna hinsah. Sie vermied es, sie lange und direkt anzuschauen, aber damit konnte sie Jaki nicht täuschen. Am liebsten hätte sie Anna angestarrt und ausführlich gemustert. Hatte auch Anna das bemerkt? Er saß neben ihr und konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie schwieg, und die ganze Zeit lag ihre Hand auf seinem Knie, auf Abruf, und sie schwieg. Erst als Avri aufstand und sagte, er müsse nun fahren, und ihnen vorschlug zu bleiben, er würde morgen kommen und sie zur Pathologie bringen, stand auch Anna auf und sagte:
»Ich fliege mit Avri, ich möchte Vicky treffen!« Und als Jaki ihr folgen wollte, fügte sie hinzu: »Jaki, bleib bei deiner Mutter!«
Jaki schaute sie erschrocken an, ihm fehlten die Worte. Plötzlich wusste er nicht, was in ihrem Kopf vorging, dass sie ihn nun allein ließ und von ihm verlangte, bei seiner Mutter zu bleiben und sie allein fliegen zu lassen. Lange schauten sie sich an. Doch dann schob die Mutter den Stuhl zurück und stand ebenfalls auf.
»Wenn man nach Eilat fliegt, komme ich mit«, sagte sie.
Konnte das sein? Oder hatte sich etwas in seinem Kopf gelockert? Was sollte das heißen? Versuchte Mutter, einen Streit zwischen ihm und Anna zu verhindern?
Avri wollte protestieren: »Aber Mutter …«
»Kein Aber«, sagte sie entschlossen.
»Es ist ungewiss, ob man so kurzfristig ein Ticket bekommen kann. Ein Flugzeug ist kein Bus.«
»Avri!«, sagte Anna scharf. Ihre Stimme zerschnitt die Luft.
Jaki und Avri verstummten, und obwohl alle schwiegen, spürte Jaki das Echo von Annas resoluter Stimme, als würde sie sich den Forderungen seiner Mutter anschließen. Er wusste nicht mehr, ob es seine Mutter war, die darauf bestand, gemeinsam zu fliegen, oder Anna oder beide. Lange wagte niemand etwas zu sagen. Dann griff Avri nach dem Telefon. Auch als er sich nach Plätzen im Flugzeug erkundigte, herrschte Stille in Zilas Wohnzimmer, und seine Stimme war im ganzen Haus zu hören.
Jaki wusste nicht, wann seine Mutter zum letzten Mal geflogen war, er erinnerte sich nur, dass seine Eltern damals zu ihrem ersten Besuch bei Avri und Vicky geflogen waren, nach ihrer Hochzeit. Aber damals hatte der Vater noch gelebt. Nach seinem Tod hatte sie bestimmt keinen Fuß mehr in ein Flugzeug gesetzt. Und nun saß sie hinter ihnen am Gang, neben Avri, und schaute durch Avris Fenster auf die dicke Baumwollschicht der weißen Wolken.
In den Reihen dahinter saßen noch zwei Paare und ein einzelner
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