Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
auffordernd auf sie herab. »Sagten Sie nicht, er sehe ihm recht ähnlich? Vielleicht könnten Sie ihre Beobachtungen in Anwesenheit unseres Gastes noch einmal konkretisieren?«
Für einen Moment schwindelte ihr, und sie überlegte fieberhaft, wie sie aus dieser Situation herauskommen konnte.
»Ich erinnere mich, dass die alte Dame sagte, der Junge auf dem Foto sei tot. Also kann ich mich nur geirrt haben. Außerdem habe ich noch mal nachgedacht. Im Nachhinein glaube ich nicht mehr, dass meine Erinnerung tatsächlich real war. Ich denke, Frau Doktor Parlowa hat vollkommen recht. Ich stand immer noch unter Schock, als ich meine Aussage gemacht habe. Ich habe ein Trugbild entwickelt. Es kann gar nicht anders sein.«
Lebenov verzog keine Miene, doch der Ausdruck seiner Augen zeigte, dass ihn die Aussage nicht zufriedenstellte. Ohne ein Wort ging er nach draußen und schloss für einen Moment die Tür hinter sich. Stimmen waren zu hören, und Lebenovs befehlsgewohnter Bass erhob sich hier und da. Leider konnte sie nicht verstehen, was er genau sagte.
Viktoria wechselte einen Blick mit Bashtiri, der seine Lippen zu einem schmalen Strich verzog.
»Ich meine«, fuhr sie mit fester Stimme fort, »es ist uns sicher nicht geholfen, wenn man einem Phantom hinterher jagt, das nur in meiner Phantasie existiert hat.«
»Gut«, befand Bashtiri mit einem säuerlichen Lächeln und kippte den Wodka in einem Schluck hinunter. »Sie können gehen. Ich danke Ihnen.«
Nachdem Viktoria den Raum verlassen hatte, trat Lebenov an ihr vorbei, um zu Bashtiri und Leonids Großvater zurückzukehren. Dabei warf er ihr einen finsteren Blick zu. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und Viktoria blieb allein in dem kleinen Flur zurück. Anscheinend hatte niemand ein Interesse daran, sie hinauszugeleiten. Das gab ihr die Gelegenheit, noch für einen Moment stehen zu bleiben und dem weiteren Gespräch zu lauschen.
»Also gut, Alterchen.« Lebenov erhob seine Stimme in der gleichen respektlosen Weise wie vor ein paar Tagen in der Hütte von Leonids |287| Großeltern. »Dein Enkel ist also tot, aber deine Frau lebt noch, und sie ist die Tochter eines gewissen Leonard Michailowitsch Schenkendorff und einer Ewenkin mit dem Namen Irina Ivanovna. Dieser Schenkendorff war, wie mir zu Ohren gekommen ist, deutscher Abstammung. Was hatte er vor gut einhundert Jahren in dieser Gegend zu suchen?«
»Sie müssen entschuldigen, Andrej Semjonowitsch«, erwiderte Schirov nach einem kurzen Zögern. »Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz. Was soll der Vater meiner Frau mit Ihren derzeitigen Problemen zu tun haben?«
»Ich stelle hier die Fragen!«, rief Lebenov erzürnt. »Also?«
»Es tut mir leid«, wiederholte sich Schirov, nicht weniger ungeduldig. »Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen. Außerdem habe ich nicht die geringste Ahnung, wie mein Schwiegervater hierhergekommen ist. Als ich meine Frau kennenlernte, war er bereits verstorben, und das Einzige, was die Familie über ihn erzählte, war, dass er sich als treuer Bolschewik bezeichnen durfte und dafür vom Zaren zur Zwangsarbeit verurteilt worden war.«
»Nun gut.« Lebenov schien ruhiger zu werden. »Es gibt also keine Aufzeichnungen, und deine Frau hat nie darüber gesprochen, welcher Beschäftigung ihr Vater während seiner Zeit im Lager nachgegangen ist?«
»Soweit ich weiß, war er Goldwäscher«, erwiderte Schirov. »Vor der Katastrophe von Tunguska hat er als Deportierter für eine staatliche Firma gearbeitet. Während des Unglücks wurde er gegen einen Fels geschleudert und hat das Gedächtnis verloren. Es dauerte Jahre, bis er wieder klar denken konnte. Die Familie meiner Frau hat ihn aufgenommen und gesundgepflegt.«
»Er war also bei dem großen Big Bang vor genau einhundert Jahren dabei?«, ergriff Bashtiri das Wort. »Hatte er eine Ahnung, wie es dazu gekommen ist?«
Schirov antwortete: »Bei allem Respekt – warum sollte er? Tausende haben diese Katastrophe aus nächster Nähe erlebt. Niemand konnte bisher genau sagen, was an jenem Junimorgen 1908 hier in dieser Gegend vor sich gegangen ist. Glauben Sie ernsthaft, es gäbe so viele Theorien, wenn auch nur eine davon zu belegen wäre?«
|288| »Aber es gibt Legenden?«
»Ja«, bestätigte Schirov, »die gibt es. Aber es bleiben Legenden.«
»Also gut. Du kannst gehen«, erklärte Lebenov kurz angebunden.
Viktoria hatte genug gehört. Allem Anschein nach hatten die Entdeckungen im See bei Bashtiri und seinen Verbündeten die
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