Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Unmutsbekundungen abzuhalten. Solange sie sich in der Gewalt von Lebenovs Leuten befanden, hielt sie es für besser, diese nicht auch noch zu reizen.
Theisen an die Oberfläche zu befördern, erwies sich als so schwierig, dass Leonid nochmals mithelfen musste. Während sich seine Muskeln unter dem Lederhemd anspannten, ließ Rebrov ihn nicht aus den Augen.
Als sie es endlich geschafft hatten, sahen sie, dass der Himmel düster war, obwohl es in dieser Gegend im Sommer gewöhnlich lange hell blieb.
Viktoria fiel sofort auf, dass Ajaci verschwunden war. Inbrünstig hoffte sie, dass die Soldaten ihn nicht erschossen hatten. Auch Leonid |340| warf einen forschenden Blick in die Umgebung, dabei dachte er allerdings mehr an seine Großmutter und dass sie nun vergeblich am Ortsausgang von Vanavara auf ihn warten würde.
Lebenov stand aufrecht in seiner Baracke und hielt das uralte, in Leder gebundene Notizbuch ein Stück weit von sich entfernt, um die schön geschwungene, aber für seine Verhältnisse viel zu klein geschriebene Handschrift lesen zu können.
Gott der Herr ist mein Zeuge
, stand dort,
dass ich nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen habe und dass ich es allein seiner Gnade zu verdanken habe, mit dem Leben davongekommen zu sein. Obwohl ich nie ein gläubiger Mensch war, bin ich mir sicher, dass in jenen Tagen das Jüngste Gericht gekommen ist, um uns einen Ausblick auf jene Hölle zu bescheren, die Menschen zu erschaffen imstande sind, wenn sie sich auf die Unterstützung von Dämonen verlassen. Und so bete ich inbrünstig dafür, dass die Prophezeiung des alten Schamanen niemals in Erfüllung geht und meine Sippe verschont bleiben wird von jenem neunten Kind, das neun Seelen verschlingt und den Geist seiner unseligen Vorväter in sich vereint, noch bevor es das Licht der Welt erblickt.
Lebenov hielt einen Moment inne, dann klappte er das Buch zu und klopfte dem Soldaten, der es ihm überbracht hatte, auf die Schulter.
»Gut gemacht«, lobte Lebenov mit markiger Stimme. Dann blickte er fragend auf und sah, dass der Mann abwartend in sein Gesicht schaute. »Sonst noch was?«
»Draußen steht einer von den Einheimischen. Ich habe ihn auf Empfehlung des Kapitans von Vanavara hergebracht. Er meinte, für ein paar Rubel sei der Mann bereit, uns ein Geheimnis preiszugeben.«
»Er soll hereinkommen«, schnaubte Lebenov. Die Sache gestaltete sich derart undurchsichtig, dass er jeden Hinweis dankbar entgegennahm.
Der Mann war Mitte fünfzig und gehörte zu den ewenkischen Ureinwohnern. Er trug keinerlei traditionelle Kleidung, und so wie er aussah, ungepflegt und vom Alkohol gezeichnet, gehörte er nicht unbedingt zur Oberschicht.
»Wie ist dein Name?«
»Adam Adamowitsch.«
|341| Lebenov wies ihm einen Platz an seinem Esstisch zu, nachdem er ihm einen Stuhl hingeschoben hatte, und setzte sich ebenfalls. Draußen vor der Tür hatte er zwei Wachen postiert. Auch wenn von dem Mann keine Gefahr auszugehen schien, so machte diese Maßnahme Eindruck und zeigte seinem Gast, dass er im Zweifel nicht zu Späßen aufgelegt war.
»Also, Adam Adamowitsch, warum glaubst du, dass du uns hilfreich sein kannst?«
Den dürren, krank aussehenden Ewenken mit dem strähnigen Haar hatte man aus der Stammesgemeinschaft ausgestoßen, wie Lebenov bald erfuhr, weil er vor Jahren ein kleines Mädchen belästigt hatte und auch sonst nicht zu den Leuten zählte, die man als zuverlässig bezeichnen durfte. Daher zog er durch das Land, wie ein Wolf, der sein Rudel verloren hatte, immer auf der Suche nach ein paar Almosen und einem billigen Wodka.
Lebenov zögerte nicht lange und zeigte ihm ein Foto von Leonid Aldanov. »Hast du diesen Mann schon mal gesehen?«
Der Mann starrte auf das Bild und sagte erst nichts, bis Lebenov ihm einen Wodka anbot, den er mit einem Schluck hinunterkippte, den Blick immer noch abwartend auf das leere Glas gerichtet, als ob er ein gewisses Pensum benötigte, um überhaupt etwas sagen zu können. Lebenov stellte ihm gleich eine ganze Flasche auf den Tisch, bevor er ihm nochmals das Foto hinhielt.
»Ich kenne ihn«, sagte er so plötzlich, dass Lebenov verdutzt aufschaute. »Er ist der Sohn einer früheren Klassenkameradin. Seinen Vater habe ich auch gekannt. Ein armer Teufel! Hat alles verloren, so wie ich. Aber bei ihm war es schlimmer, weil er nichts dafür konnte.«
»Was soll das heißen?« Lebenov sah den Mann abwartend an.
»Auf der Familie lag ein Fluch. Sie sind alle krepiert – bis auf
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