Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
des Camps. Nach Lebenovs Anweisungen hätten sie es eigentlich nicht verlassen dürfen. Darüber hinaus passte das Aussehen des Ewenken – bis auf die langen Haare – exakt zu den Beschreibungen, die ihnen Lebenov mit auf den Weg gegeben hatte.
»Was soll das?«, stöhnte Theisen verärgert, als man begann, ihn zu durchsuchen.
»Das gesamte Camp stand unter einer Ausgangssperre«, erklärte Rebrov mit unnachgiebiger Miene. »Also müssen wir uns die Frage stellen, was Sie hier verloren haben?«
Viktoria warf ihm einen aufgebrachten Blick zu. »Sagen Sie nur, Lebenov kontrolliert tatsächlich, ob wir uns an seine Anweisungen halten?«
|338| »Was denkst du, Schätzchen? Meinst du, wir sind zufällig auf diesen Bunker gestoßen?« Einer von Rebrovs Kameraden grinste anzüglich.
»Lässt er uns etwa observieren?« Theisen starrte Rebrov trotz seiner Schmerzen ungläubig an.
»Nicht ganz«, erwiderte Rebrov kühl. »Wir haben die Gegend durchsucht, und dabei ist uns die charmante deutsche Kollegin in Begleitung eines Unbekannten aufgefallen, und wir haben beobachtet, wie sie zusammen in dieses Loch hinabgestiegen sind.«
Leonids Finger zuckten kurz, als einer der Soldaten mit einem lüsternen Grinsen auf Viktoria zuging, um sie abzutasten.
»Eine falsche Bewegung, oder du bekommst Ärger«, zischte Rebrov, während er den Ewenken durchdringend ansah.
Viktoria war es vollkommen gleichgültig, dass die groben Finger des Soldaten sie viel zu intensiv und an Stellen berührten, wo definitiv nichts zu finden war. Ihre Sorge galt einzig und allein Leonid, der dort stand, wie eine Eiche und sich nicht bewegte. Ihm war die Anspannung anzusehen, mit der er das unwürdige Schauspiel verfolgte. Hoffentlich macht er keine Dummheiten, schoss es ihr durch den Kopf.
»Legt ihm Handfesseln an!«, rief Rebrov seinen Männern zu und deutete auf Leonid, der diese Maßnahme erstaunlich gelassen über sich ergehen ließ.
Die vier Gestalten in Uniform bedrohten nicht nur ihn mit entsicherten Waffen, sondern auch Viktoria und ihren am Boden liegenden Kollegen. Lebhaft stand Leonid noch vor Augen, was mit ihm und den anderen geschehen würde, wenn er sich zur Wehr setzte. In seiner Erinnerung an jenen verregneten Morgen im September 2001 stürmten Bewaffnete das kleine verfallene Haus am Rande von Grosny, in dem er sich seit Tagen versteckt gehalten hatte. Innerhalb von Minuten löschten sie eine vierköpfige Familie aus, noch bevor es Leonid gelang, einen der Männer zu entwaffnen und drei weitere zu erschießen. Der vierte wehrte sich hartnäckig; noch immer spürte Leonid dessen Blut an seinen Fingern, als er ihn in einem regelrechten Rausch nur mit dem Messer tötete. Anna hatte schwer verletzt am Boden gelegen. Eine Handgranate hatte ihr den Unterschenkel abgerissen, und allem Anschein nach hatte die Druckwelle ihre Lunge zerfetzt. Halb am Boden |339| liegend, den Kopf an die Zimmerwand gelehnt, röchelte sie rötlichen Schaum. Leonid hatte noch versucht, ihr mit seinem Gürtel das Bein abzubinden, dabei flüsterte sie seinen Namen und sah ihn aus halbgeschlossenen Lidern an. Noch am Tag zuvor hatte er ihre langen blonden Wimpern bewundert und die Augen, die ihm so blau erschienen wie der Himmel im Juni. Er sah, wie sie brachen. Verzweifelt hatte er sich an die heilenden Fähigkeiten seines Onkels erinnert, die angeblich auch in ihm selbst schlummerten. Doch es war zu spät. Anna starb in seinen Armen, und schon damals konnte er spüren, wie ihre Seele den Körper verließ, während er ihre blutigen Lippen küsste.
Leonid schluckte, als man ihm Handfesseln anlegte, sagte jedoch kein Wort. Theisen jammerte lautstark, als Rebrovs Männer versuchten, ihm auf die Beine zu helfen.
»Los!«, knurrte Rebrov und gab Leonid mit einer unwirschen Geste zu verstehen, dass er trotz Fesseln einem der Söldner zu Hilfe gehen sollte. In einer Seilschlinge, die beide Männer an jeweils einer Seite geschultert hielten, versuchte man Theisen sitzend zu tragen. Laufen konnte er nicht, weil er sich allem Anschein nach das Wadenbein sowie den linken Arm gebrochen hatte, den Viktoria ihm mit seinem Gürtel fest an den Körper gebunden hatte.
»Ich werde mich noch heute Abend an die deutsche Botschaft in Moskau wenden und mich über Sie beschweren«, grunzte Theisen, während er sein Gesicht vor Schmerzen verzog.
Rebrov schien diese Aussage nicht verstanden zu haben, und Viktoria schüttelte langsam den Kopf, um Theisen von weiteren
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